1860 - Landkreis Solingen

Boomzeit. Solingens Industrie blüht, Deutschland hat die Revolutionsjahre überwunden und sucht eine neue Identität (und Stärke). Die allgemeine Industrialisierung krempelt ganze Landschaften um: Eisenbahnen werden geplant und gebaut, Fabriken gehen dank Dampfmaschinen zur industriellen Produktion über. Und vor allem: Preußen entwickelt die pure Lust am Verwalten, Normieren, Reglementieren. Um die Entwicklung in den Griff zu bekommen. Bei den natürlicherweise vielstrebigen Interessen bedurfte es da eines klugen und zugleich standhaften Mannes, die Sache in die Hand zu nehmen und gleichzeitig Impulse zu geben. In einem Buch finden sich interessante Daten aus jener Zeit.

 


Carl Friedrich Melbeck wird 1816 in Elberfeld geboren, Sohn eines angesehen Kaufmanns; doch dieser "fallierte" (machte Konkurs), die Eltern verarmten. Zeitweise musste er Kinderarbeit verrichten, konnte dann aber doch noch eine reguläre Schule besuchen. Danach wurde er Schreiber bei einem Notar. Nahm eine zweite Stelle "nebenbei" an, arbeitete täglich 15 Stunden und studierte täglich 3 Stunden. Im Alter von 25 Jahren hatte er 25 bare Thaler als Notgroschen erarbeitet und konnte sie zur Bank bringen. 1841 besteht er das Gerichtsschreiber-Examen. Danach wird er Kreissekretär des landräthlichen Kreises Elberfeld. Im Aufstandsjahr 1849 rettet er unter Lebensgefahr die Akten. Sein Mut bringt ihm das Amt des Landratsamtsverwesers. 1851 bewirbt er sich um die Stelle des Landrathes im Kreis Solingen und erhält sie. Später ernennt man ihn zum Geheimen Regierungsrat. Er ist beliebt, geachtet, ein umtriebiger Fachmann mit den Fähigkeiten, Menschen zu Kompromissen und Taten zu bewegen. U. a. gründet er die Bergische Obstkammer zu Leichlingen. 1878 wurde Melbeck als Abgeordneter des Kreises in den Deutschen Reichstag gewählt. Erst danach entscheidet er sich, welcher (politischen) Fraktion er überhaupt beitreten möchte. 1876 feierte er berufliches Silberjubiläum, 1886 trat er aus Altersgründen zurück. Er stirbt am 25. März 1891 in Düsseldorf an den Folgen einer Lungenentzündung. Der "Alt"-Kreis Solingen wurde 1887 in einen Kreis  Opladen und den Kreis Solingen geteilt. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Hier wohnte Landrat Melbeck bis zum Jahr 1866. Falls Ihnen das Haus bekannt vorkommt: heute "wohnt" hier die FDP Solingen.

 

Carl Friedrich Melbeck, Landrat des Kreises Solingen 1851 bis 1886
Zusammenstellung von Stationen seines Lebens von seiner Enkelin, Frau Clara Contze geb. Brüninghaus, Werdohl und Landrat a. D. Dr. Karl Bubner, Oberkreisdirektor des Rhein-Wupper-Kreises in Opladen
Gedruckt im Auftrage des Rhein-Wupper-Kreises
1963
Druck: reinhard brune, druckerei, leichlingen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unten:

"Statistische Darstellungen des Kreises Solingen, vorgetragen auf dem Kreistage am 8. März 1860"
Druck von Albert Pfeiffer, Solingen

Vorweg angemerkt: damals gab es weder Einwohner noch Bürger, es gab Seelen. Wie schön.

Und davon gleich 44.600 auf dem Gebiet des heutigen Solingens (inkl. Burg).

 

 

 

 

Die Statistik bemüht: in Solingen gab es 994 Wohnhäuser für 9344 Einwohner, macht ziemlich exakt 10 pro Haus. Komfortabel wohnt da Witzhelden: nur knapp 6 pro Haus

 

Die Industriestruktur des Kreises Solingen um 1860:


 

 

Knecht und Magd als ehrenwerter Beruf, Angehörige als kostenlose Arbeitskräfte: die Landwirtschaft beschäftigte und ernährte zwar viele Menschen, aber sie war dennoch nie eine Quelle hoher Einkommen. Lediglich mit den Wertsteigerungen der Ländereien und deren Verkauf (für Wohnungen und Industrie) konnten in manchen Gemeinden zu manchen Zeiten Bauern ein Vermögen machen.

Die Nebenerwerbs-Landwirtschaft war eine durchaus gängige Form der Lebens- und Einkommens-Strategie von Familien. Oft sogar die einzige Chance, nicht zu verhungern.

 

Die Produktion der Landwirtschaft reichte nicht aus, die Bevölkerung zu ernähren. Ingesamt musste im Kreis in etwa die gleiche Menge des Produzierten noch einmal hinzugekauft ("importiert") werden, um die Bevölkerung zu ernähren.

Ingesamt betrugen die Flächen von Obst- und Gartenbau weniger als 10 % des Ackerlandes und die Wiesen etwa 12 % davon. Der (Privat-) Wald der Landwirtschaft war so groß wie die Hälfte der Ackerfläche.

 

 

 

 

 

Gut 13.400 Schüler von insgesamt 118 Lehrkräften unterrichtet (damals noch keineswegs ein Frauenberuf), macht eine Klassenstärke von durchschnittlich 114. Wie ist das möglich? In dieser Zeit der Bevölkerungsexplosion war das Schulwesen keineswegs auf diese Kinderzahlen vorbereitet und die Gemeinden, so berichtete Melbeck, haben sich zum Teil deutlich verschulden müssen, um schnell neue Schulen zu bauen. ;-)

 

Selbst auf den Privatschulen sah es kaum besser aus, in Solingen hatte die höhere Bürgerschule für Knaben 4 Lehrer und 120 Schüler; Wald/Merscheid: 3 Lehrer für 84 Schüler. Lediglich die Privattöchterschule zu Solingen bot 2 Lehrerinnen für 33 Schülerinnen. Aber eine Privatelementarschule, privat, in Solingen hatte 1 Lehrer für 666 Schüler beiderlei Geschlechts (vermutlich war gemeint: "Coeducation", Unterricht für Knaben und Mädchen und keineswegs für Transsexuelle

 

Rittergüter entstanden seit dem frühen Mittelalter und davor in der Frankenzeit. Sie waren Grundbesitzungen oder land-, forst-, fisch- und jagdwirtschaftliche Nutzungsrechte für dem jeweiligen Landesherrn zum Kriegsdienst verpflichteten Lehnsherrn. Es entwickelte sich diverse, oft gegensätzliche Formen, Pflichten, Rechte. Erst durften nur Adelige, später auch Bürgerliche solche Güter erwerben, manch eine Kriegsgefolgschaftspflicht war an die Person gebunden, in anderen Fällen musste das Gut auch Mannschaften stellen. Unterschiedlich waren auch Befreiungen und Belastungen durch und von Steuern oder anderen Abgaben.

Die Kreisvertretung ("Kreistag") wurde teils demokratisch gewählt, indem Wahlmänner gewählt wurden (wie heute noch bei der US-Präsidentenwahl), andere Mitglieder waren kraft Ihres Standes vertreten. So zum Beispiel die noch verbliebenen Besitzer von Rittergütern, die gleichzeitig Mitglieder Ritterschaft waren. Das Mittelalter war also noch 1860 durchaus lebendig. Im Kreis Solingen hat es über die genannten (erhaltenen) hinaus noch etliche andere Rittergüter gegeben.

 

     
 


Zu der Zeit, da Melbeck seinen Bericht verfasst, bietet sich Solingen mit diesem Panorama dem Betrachter:
 

 

 

Rathaus

Post

Gräftrath, ev. Kirche

Synagoge

Kleine ev. Kirche

Kath. Kirche

Armenhaus

Krankenhaus

Stationsgebäude (Bahnhof am Weyersberg)

Schlachthaus

Schützenhalle (Schützenstraße)

Schützenburg (am Schlagbaum)