Industriemythos

Wann und wo immer über das Bergische Land oder Solingen berichtet wird, so gut wie ohne Ausnahme heisst es sinngemäß: eine herrliche Landschaft plus eine traditionsreiche Industrie. Landschaft und Industrie, beide Begriffe oder "Dinge" scheinen hier innig verwoben zu sein? Stimmt dieses Urteil? Ja ! Wenn eins wirklich das Bergische Land und Solingen kennzeichnet, dann ... aber das haben Sie jetzt gerade weiter oben gelesen.

 

Auszüge aus dem Vorwort eines um 1955 erschienenen Buches über die Industrie im Bergischen Land mit vielen Beispielen heute noch existenter und mancher der Vergangenheit angehörender Betriebe.

"Bei aller Vielseitigkeit hat die Bergische Industrie bis zum heutigen Tage ein gewisses handwerkliches Gesicht gewahrt."
"So wurde der bergische Arbeiter nicht Bestandteil einer anonymen Masse und der Fabrikherr wurde nicht so leicht zum modernen Manager."
 

Also sehen wir uns doch einmal an, wer die Betriebe so berühmt, reich, bedeutend und ruhmreich gemacht haben: den Solinger Arbeiter, der immer zugleich auch ein bergischer Arbeiter ist.

 

 

Das Bergische Land und seine Industrie
Verlag M. Dumont Schauberg, Köln

Diesem Buch sind alle folgenden Abbildungen entnommen.

So sieht er aus, der bergische Arbeiter.

Er hat ausgeprägt-tatkräftige Hände. Einen hellen, wachen Blick bis ins hohe Alter. Gepflegt ist er, läuft auch als Rentner nur korrekt gekleidet. Seine Gutmütigkeit kann man ihm ansehen und seinen Dickkopf auch. Er sitzt immer auf einer eigenen Bank auf eigener Scholle, krempelt, wann immer es geht, die Ärmel hoch und blickt nach vorne. Wo vorne ist, bestimmt er selbst. Am liebsten ist links vorne. Und sprungbereit ist er, falls die Pflicht ruft oder es wieder eine Revolution gibt. Egal, gegen was, Hauptsache, abends trifft man sich in der Kneipe beim Bier. So ist er, der bergische Arbeiter.

 

Im Jahre 1901 exportierten  nach Berechnungen der amerikanischen Konsulate Waren im Wert von
Barmen 5.019.071 $
Krefeld 2.68.634 $
Köln 2.311.790 $
Solingen 1.442.793 $
Düsseldorf 1.277.555 $

1902 schaffte Solingen schon 150.000 $ mehr.
 

Und wenn der bergische Arbeiter jung ist, dann hat er stets ein prüfendes Auge auf das, was man Qualität nennt. Präzision im Blick, Gefühl und Kraft in den Arbeiterhänden, die Erfahrung von vielen hundert Jahren auf dem Buckel. So schafft er Dinge von Weltruhm.

 

 

Ach ja, mein Opa hat auch bei Bögra, Böntgen & Grah in Solingen-Wald gearbeitet.

Ein Text von der bögra-Website aus dem Jahr 2003:

Wer über Firmenkarrieren in unserer Heimat, dem Bergischen Land, berichtet, der kann gar nicht außer acht lassen, welche Rolle die Wald- und Hügellandschaft zwischen Rhein, Ruhr und Sieg seit eh und je für die heimische Industrie gespielt hat.
Zu bodenständig-beharrlicher Zähigkeit der Menschen kommt ihr sprichwörtlicher Fleiß, zur Lust am Selbständigsein addieren sich Gründlichkeit und Ideenreichtum. Strömendes Wasser, Erz und Kohle vor der Haustür - die Natur steuerte stets das ihre zum Wachstum bei. Im Mittelpunkt von allem: Metall.

Wie gesagt von heute. Nicht aus 1903. Aber der Stolz über sich selbst ist geblieben.

Schwere Technik für feine Dinge. Unter dieses Motto könnte man sehr viele Firmen und deren Maschinen bzw. Lösungen stellen, die in der Firmengeschichte von Bedeutung waren und es heute noch sind. Natürlich ist viel der früheren Handarbeit auf Maschinen verlagert worden. Aber das waren "in der guten alten Zeit" bis vor wenigen Jahren eben noch allenfalls Halb-, keine Vollautomaten. Es bedurfte des Arbeiters, die Maschinen zu bedien. Der stand im Hintergrund. Unsichtbar. Aber immer da.

In den 80er-Jahren war Klopp der größe Schnellhobler-Hersteller weltweit, bis 1990 wurden fast 90.000 dieser Maschinen mit mechanischem und hydraulischem Antrieb hergestellt. Darüber hinaus fertige man Konsol- und Bettfräsmaschinen.

 

Schnellhobler der Klopp-Werke, Solingen-Wald

Klopp ist heute ein Teil der in Solingen ansässigen Evertz-Gruppe und produziert als Klopp-Maschinenbau noch weiter Schnellhobler

Ein Viertel der Arbeiter wohnen auf den Höhen und gehen in den Tälern zur Arbeit, ein anderes Viertel wohnt in den Tälern und geht auf die Berge zum Arbeiten, das nächste Viertel wohnt und arbeitet in Tälern und auch ein Viertel arbeitet und wohnt auf den Bergen, ein weiteres Viertel geht gar nicht zur Arbeit. Das ist Solinger Mathematik, Geographie, Geschichte und Schicksal in einem Satz ausgedrückt.

Jedenfalls war die wunderschöne Wupperlandschaft (Fluß als dunkler Streifen im unteren Bilddrittel zu sehen, sich um die Fabrik schlingend) auch schon immer Industrielandschaft:

Jagenberg & Cie., Solinger Papierfabrik, an der Stelle, wo Johannes Soter die erste Papiermühle im Stadtkreis gründete.

Ein Bild aus den frühen 1950er Jahren, heute sind die Höhen intensiv bebaut.

 

So groß und mächtig auch sein Werk ist, so klein und unbedeutend erscheint er in seiner körperlichen Größe oft gegen sein Werk, der bergische Arbeiter. Hier will er sich keineswegs am Kranhaken aufhängen, hat seinen Kopf nicht an den Haken gehängt, sonder der fleißige Mann versucht nur, ein Riesenmonster an Kurbelpresse mit 800 t Druckkraft mit Hilfe eines Kranes zu montieren.

 

Th. Kieserling & Albrecht

Die Reste des Unternehmens sind nach Aachen ausgeliedert worden. In Solingen existiert es nicht mehr und war früher eine Perle unter den Solinger Fabriken.

 

Alleine geht er nicht gerne zur Arbeit, der bergische Arbeiter. Da nimmt er gerne ein paar Kollegen mit, damit es nicht so langweilig wird, beim Arbeiten. Und so sitzen sie dann auf der Reihe, sind guten Mutes und arbeiten im Akkord. Was keineswegs Unstimmigkeiten beseitigt, sondern fördert: wenn man im Takt auf die andern angewiesen ist, verdient man nur so viel wie der langsamste schnell macht. "Tack ens jet sierder", wird dann gesagt, altneudeutsch "gib Gas" und jetztdeutsch "full power, eih".

 

Karl Braun, Solingen, Lederwarenfabrik

"hand-made", das ist heute der Begriff für Unregelmäßigkeit, das Individuelle, etwas Besonderes. Das Besondere am bergishen Arbeiter aber war, dass er hand-made etwas ganz Normales machte und dies in völlig identischer Qualität. Fließband-Handarbeit. Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Oft ein ganzes Arbeiterleben lang. Eins besser als das andere, denn mit dem Alter kamen Routine und Erfahrung und unter 5 Jahre Lernen in einem richtigen Beruf lief eigentlich gar nichts. Die Hände, das Eigentliche beim bergischen Arbeiter.

 

Hugo Linder Deltawerk, Solingen

Grob und fein. Beides ist charakteristisch für das Können des bergischen Arbeiters. Das Filigrane und das Gewaltige, beides liegen ihm. Kraft und Ausdauer, Tüftelei und Eile, Präzision und Improvisation, die unendliche Geduld und die Massenfabrikation. Es sind die Gegensätze, die zur Gemeinsamkeit werden, und die von bergischen Arbeitern gar nicht als solche gesehen werden. Denn was grob im heißen

Der bergische Arbeiter: ein Talent wie es im Buche steht.

Rich. Abr. Herder, Solingen

 

Ist die Arbeit fertig, geht der bergische Arbeiter liefern. Vor allem, wenn er ein "Winkelsfabrikant" oder ein Schlieper, Reider, Pliester, jemand ist, der im Kotten, in den Hofschaften, "em Dengen" arbeitet, in der Werkstatt hinterm Haus. Bei schönen Wetter liefert er, bei schlechtem wird gearbeitet. Es wird viiiiieeel gearbeitet !

 

 

Und so arbeiten sie noch heute, die bergischen Arbeiter. Ob sie in Ostpreußen oder in Solingen geboren sind, bei weltberühmten Marken wie Henckels oder bei den unzähligen kleinen, genau so feinen Marken ihren Lohn verdienen: sie tun dies gerne. Das ist kein Pathos, sondern erlebte Arbeitswelt und heute noch Realität. Da mögen Wirschaftskrisen ihren Tribut zollen, viel von den alten Strukturen inzwischen schon vernichtet sein, das meiste unumkehrbar verloren: wer es überlebt hat, lebt so, wie es die Generationen zuvor getan haben. Im festen Bewusstsein, dass er, der bergische Arbeiter, etwas Besonderes ist.

Warum weiß er so genau auch nicht.

 

Foto: Kerstin Ehmke-Putsch
Motiv: ihr Daddy
Location: Henckels Zwillingswerk