Sagen und Märchen

Eine Landschaft, die auf sich hält, hat ihre Sagen. Und welche Sagengestalten könnten für Solingen besser passen als Gnome, Zwerge und Heinzelmännchen. Drollige Dinger, die einerseits respektiert werden sollen, andererseits aber dem Gespött der Leute und manchem Versuch ausgesetzt sind, übertölpelt zu werden. Sagen sind Sittengemälde. In Form von Märchen und Gedichten, von Erzählungen und mystisch-mythischen Ritualschilderungen werden Werte beschrieben, weitergegeben, gelobt und bewertet. Sagen sagen etwas über die Moral, sind Übersetzungen religiös-philosophischer Werte in die Alltags- und Umgangssprache, vor allem aber die Denkwelt von Kindern.

 

Die Krummbeinigen von Solingen


An der Wupper, in der Nähe von Solingen, lag ein Schleifkotten, welcher von einer armen Schleiferfamilie bewohnt war. Wenn diese Familie einen Feiertag beging, wurde Reisbrei gekocht.

Allmählich wuchs die Familie immer mehr an, und der alte Topf wurde bald zu klein. Einen neuen, größeren Topf konnte der Schleifer nicht kaufen. Dazu reichten seine Mittel nicht.

Nun wohnten in dem gegenüberliegenden Berge die Heinzelmännchen, welche viele Töpfe, große und kleine, besaßen. Dort lieh nun unsere Schleiferfamilie jedesmal einen großen Topf, wenn wieder Reis für die Familie gekocht werden sollte. Einen Rest der Speisen ließ man den Heinzelmännchen jedesmal aus Dankbarkeit im Topf zurück. So bestand lange ein freundnachbarlicher Verkehr zwischen den Schleifersleuten und den Heinzelmännchen.

Die Kunde davon verbreitete sich auch in Solingen, und einige der dortigen Schleifer beschlossen, auch einmal einen Topf von den liebenswürdigen Heinzelmännchen zu leihen. Gesagt, getan. Als sie aber den Topf zurückbrachten, ließen sie keinen Rest der Speisen zurück, sondern verunreinigten den Topf mit menschlichem Unrat. Das erbitterte die Heinzelmännchen derart, daß sie die Solinger Einwohner verfluchten und ihnen für alle Zukunft krumme Beine wünschten.

Der Fluch ging in Erfüllung. Und seit jener Zeit sind die Solinger krummbeinig.
 



 

 

 

 

 

 

 

Der Schmied und die Zwerge von Müngsten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



Bei Müngsten im Wuppertal wohnten Zwerge in steilen Felsen auf dem rechten Ufer des Flusses. Einmal kam um Mitternacht ein Hammerschmied vom Wirtshaus des Weges daher. Als er in die Gegend der Zwerglöcher gelangte, blieb er verwundert stehen; er hörte ganz deutlich helles Lachen und Jauchzen. Und da sah der Schmied auch schon im Mondschein die kleinen Kerlchen zwischen den Bäumen und Felsen herumspringen; manche warfen vor Vergnügen ihre Mützen in die Luft und fingen sie wieder auf, andere tanzten lustig das Flußufer entlang. Auf einmal gab's ein lautes Jammern. Einem der kleinen Schelme war die Mütze in die Wupper gefallen, alle rannten hin und sahen entsetzt, wie das Käppchen fortschwamm. Was sollte der Arme machen? Ohne seine Mütze war er ja kein richtiger Zwerg mehr! Das tat nun dem guten Hammerschmied leid; er stieg ins Wasser, fischte die Mütze heraus und gab sie dem Zwerg, der sich sehr darüber freute.

Der Schmied ging nun nach Hause, stellte sich noch Roheisen an den Amboß zurecht, weil er früh an die Arbeit gehen mußte, und legte sich dann zu Bett. Als er aber am andern Morgen die Schmiede betrat, fand er statt des Roheisens den schönsten Stahl vor. Und das ging nun so fort, Nacht für Nacht; bald war er der wohlhabendste Mann in ganz Remscheid. Aber die Neugierde, wie das mit dem Eisen zuging, ließ den Mann nicht ruhen.

Eines Abends versteckte sich der Schmied hinter dem Blasebalg; bald hörte er auch ein feines Geräusch, und herein kam der Zwerg, dem er damals geholfen hatte, mit einem Schurzfell angetan, eine silberne Lampe in der Hand. Der Schmied mußte sich bemühen still zu sein, um nicht loszuplatzen, so spaßig sah der kleine Mann aus. Nun holte der Zwerg sein Hämmerchen aus dem Schurzfell und fing an zu hämmern. Die Schläge hörte man kaum, aber das Eisen dehnte sich wie Wachs, und in wenigen Stunden lag der Stahl fertig da.

Nun wollte sich der Hammerschmied auch nicht lumpen lassen; er bestellte bei dem besten Schneider ein goldgesticktes Wämschen für seinen kleinen Gesellen und legte es ihm am Abend, fein verpackt, hin. Das Männchen kam, öffnete vorsichtig das Paketchen und lachte übers ganze Gesicht vor Freude. Schnell hatte es sein graues Röckchen aus- und das neue angezogen, besah sich von oben bis unten und rief: " Wat brukt en Jonker te schlipen, de en ruaden Rock anhett?", und ließ sich seitdem nicht mehr sehen.

Einstens sind Zwerge öfters bei Schmieden und anderen Arbeitern eingekehrt und haben ihnen geholfen. Leider sind diese Zeiten verklungen!

 

 

Die Entstehung der Wupper


 

Einst schritt ein Gnom, den Stab in zarter Hand, durchs rauhe Land der Berge dahin. Den Menschen Wohltaten zu spenden, war sein unablässiges Bestreben. Allein ihm mangelte es an Speise, denn es war ein Hungerjahr. Da gewahrte ihn ein Weib, und, seine Not erkennend, bot sie ihm würzige Erdbeeren, welche sie im fernen Tale für ihre Kleinen gepflückt hatte. Hoch erfreut aß der Zwerg, gewährte aber dem Weibe aus Dankbarkeit die Gewährung eines Wunsches. Dessen Verlangen war nun nicht auf Gold gerichtet. Darum erbat sie das Wohlwollen des Gnomenkönigs für ihre Kinder und dies rauhe, unwirtliche Land. Der König gewährte die Bitte und befahl dem Weibe, an dieser Stelle zu graben. Kaum hatte es mit der Arbeit begonnen, als ein wasserreicher Quell hervorsprudelte, der munter zu Tal hüpfte. "Dieser Quell", sprach der Gnom, "wird das Glück Deiner Kinder sein. Denn sein Wasser wird bald zum kräftigen Fluß erstarken, der Segen verbreiten und Gold und Silber hervorzaubern wird. Namentlich wird der Ort beglückt werden, wo Du mir die Erdbeeren gepflückt hast. Weit wird einst der Ruhm Solingens durch die Welt dringen."

Da verschwand der Gnom mit der Bemerkung: "Nur Erdbeeren, die wird man fürderhin in Leichlingen wachsen sehen."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rheinisches Lesebuch, ca. 1935
Druck und Verlag von W. Crüwell in Dortmund