Sozialleere 2004+

Geht's wieder los? Reicht die Wut? Ist der Gedanke "Sozialdemokratie" eine Sackgasse? Moral, zur Zeit nicht gefragt? Wie immer in Umbruchzeiten - und wer wollte leugnen, dass wir in einer solchen sind - stoßen Werte und Meinungen, Perspektiven und Positionen härter, aggressiver und kompromissloser aufeinander als in ruhigeren Zeiten. Jetzt geht es, so scheint es vor allem vielen Sozialdemokraten, wirklich "an's Eingemachte", sprich die Kernwerte und -Ziele. Trost oder Symptom, noch ist das nicht erkennbar, ist, dass auch im kapitalistischen Lager die Welt alles andere als heil und in Ordnung ist. Manche werden an die Ereignisse vor 150 Jahren und länger erinnert, als sich "das arbeitende Volk" zu organisieren versuchte und neue Strukturen schuf.  Wird es sich diemals einfach unterbuttern lassen?

 

Gewerkschafter wollen nicht mehr tatenlos zusehen und schon gar nicht mehr dulden, was da im Namen der Sozialdemokratischen Partei geschieht. Das Bettuch, so eine gängige Metapher, sei zerrissen, die Sozis sind nicht mehr eine Familie und in Personalunion sowohl Volks- wie auch Interessenvertreter. Das einst rote Solingen, eine Hochburg der Sozialdemokratie, scheint zu zerbröckeln. Doch ob das Neue wirklich Substanz und dann Bestand hat, muss erst die Zukunft zeigen. Die Zweifel daran sind groß.

Die Gaststätte Birkenweiher ist ohne Zweifel die politischste Kneipe Solingens. 20 Meter neben der SPD-, ca. 150 von der CDU- und gerade mal 5 Gehminuten von der FDP-Zentrale. Hier treffen sich vor allem politische - nun ja, sagen wir einmal - verschiedenfarbige. Oft und intensiv zu Bier und rein zufälligen Gesprächen. Gekungelt, was von Übel wäre, wird hier nie und nimmer, sagte irgendein Tier im Märchen und aß Kalk, um eine reine Stimme - oder weiße Weste? - zu haben.

 

Rot sehen inzwischen nicht nur die gewerkschafts-orientierten Genossen bei ihren Parteifreunden, sondern vor allem auch einige, die sich im Bereich sozialer Belange engagieren. In Bezug auf die Hasseldelle, sozial exponiertes Gebiet, gab es einen jahrelangen Kampf um die formal verständliche, in ihren Auswirkungen längst absurde Fehlbelegerabgabe (in Kurzform: Strafabgabe für Mieter mit zu hohem Einkommen). Sie sollte im gesamten Gebiet ausgesetzt werden, damit die vor allem inzwischen älteren, gut verdienenden Mieter nicht ausziehen und damit das Gebiet einkommensmäßig verarmt - die Folgen sind jedem denkenden Menschen klar. Doch gerade die Sozis stellten sich quer - was den Widerspruch und den Kampf anderer Sozis so richtig anfachte. Bis das Gebiet schließlich komplett "frei" wurde - 2004.

Die Fakten aus Sicht der "Kämpfer":



 

Während allmählich Hohn und Spott über die sozialdemokratischen Resultate der Schröder-Regierung Methode werden, könnten aber selbst diejenigen, die angetreten sind, zu retten, was noch zu retten ist, ins Leere laufen: Während die "WIR in der Hasseldelle" noch über die Abschaffung der Fehlbelegerabgabe für alle Wohnungen jubelt, wurde der Hauptvermieter dieses Gebiets, die Gagfah in Essen, an amerikanische Investoren verkauf. Kapitalismus in Reinkultur.

 

 

 

 

 

 

Gagfah ist der Vermieter (Eigentümer) der optisch beleidigend-hässlichen grauen Häuserkuben der Siedlung Hasseldelle. Diese hat nun die Wohnungen auch in der Hasseldelle an Fortress verkauft.

Unter dem Titel "Der Mieter ist Kunde" berichtet DER SPIEGEL (Auszüge):


"Der Mieter ist unser Kunde. Mit uns wird es keine Kündigungen oder Luxussanierungen geben", versichert Matthias Moser, der Frankfurter Fortress-Geschäftsführer. Das Unternehmen, das in den USA mit dem Ankauf notleidender Kredite an Wohnwagenbesitzer bekannt wurde, musste zahlreiche Sozialklauseln unterschreiben, um die Zustimmung der SPD-Ministerin wahrscheinlich zu machen.

So werden Sozialarbeiter eingestellt, "um die Mietstrukturen zu stabilisieren". Vermietete Wohnungen dürfen in den ersten zwei Jahren nur an Mieter und dann auch noch mit einem Rabatt von 15 Prozent auf den Verkehrswert verkauft werden. Pro Jahr sollen höchstens 5, in zehn Jahren maximal 30 Prozent der Wohnungen an Dritte verkauft werden dürfen.

Für das schnelle Geld mit der Mieterprivatisierung eignet sich allerdings nur höchstens ein Drittel der 80 000 Wohnungen. Erschwerend kommt hinzu, dass in diesen Vorzeigehäusern der Rentneranteil über 40 Prozent liegt. Im hohen Alter können und wollen nur noch wenige Eigentum erwerben.

"Wir haben in Deutschland die tiefsten Immobilienpreise seit 20 Jahren", sagt Jim Garman von Goldman Sachs. Die internationalen Investoren setzen auf eine Umkehrung dieses Trends. Gleichzeitig wollen sie ihr Kapital internationaler streuen. Denn in den angelsächsischen Ländern sind die Immobilienpreise explodiert, es wächst die Angst vor einem Crash.

Mieterschützer sehen solche Pläne mit Sorge. "Wir haben Angst, dass der Mieterschutz beim Weiterverkauf irgendwann auf der Strecke bleibt", befürchtet Aichard Hoffmann vom Mieterverein Bochum.

Bislang allerdings sind die ausländischen Großinvestoren nicht negativ aufgefallen. Abschreckende Beispiele liefern nur private Verkäufer wie etwa der Wohnungsgigant Viterra - und einheimische Käufer. Die zum Verkauf stehende Tochter des Energieriesen E.ON., für die sich auch Terra und Fortress interessieren, verschob 2003 ohne Sozialklauseln im Ruhrgebiet 3000 Wohnungen an lokale Baulöwen, die für ihre unzimperlichen Verkaufsmethoden berüchtigt sind.

In den betroffenen Siedlungen herrscht Panikstimmung. In Essen schleusen die Baulöwen seit Monaten private Kaufinteressenten durch die Siedlung neben der ehemaligen Bonifacius-Zeche. Handwerker terrorisieren Mieter, und Kündigungen wegen Eigenbedarf werden schon mal auf einem Bierdeckel unter der Tür durchgeschoben: "Du raus, mein Sohn rein."

Für Mieterschützer Hoffmann besteht kein Zweifel: "Hier zeigt sich der Kapitalismus von seiner hässlichsten Seite."

BEAT BALZLI, CHRISTOPH PAULY

 

25. Juli 2004

Die Diskussion um die Reform des Kündigungsschutzes hat am Wochenende neues Tempo bekommen. Friedrich Merz hatte in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" kurzerhand dessen komplette Abschaffung gefordert: "In der Schweiz gibt es gar keinen Kündigungsschutz - und Vollbeschäftigung." Nach den Worten des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion will die Union zunächst den Kündigungsschutz für Ältere aufweichen. "Wenn wir damit nachweisen, dass weniger Schutz zu mehr Beschäftigung führt, können wir eines Tages ganz auf den besonderen Kündigungsschutz verzichten", sagte Merz.

Die Überlegungen treffen auf erbitterten Widerstand des CDU-Arbeitnehmerflügels CDA. Deren Vorsitzender Hermann-Josef Arentz bezeichnete den Merz-Vorstoß im Hörfunksender NDR2 als "nackte Ideologie". "Friedrich Merz verhält sich in der Sozialpolitik wie die Axt im Walde. So kann man weder mit dem Kündigungsschutz noch mit den Menschen umgehen", sagte Arentz. Arentz hält die jetzigen Kündigungsschutzregeln für flexibel genug. Eine Verringerung des Schutzes würde keinen neuen Arbeitsplatz schaffen, sagte der CDA-Vorsitzende.

Auch der CSU-Sozialexperte Horst Seehofer kritisierte den Vorstoß: Die Union brauche jetzt "ein schlüssiges Gesamtkonzept für Wachstum und Beschäftigung, das sich nicht in der Kürzung von Sozialleistungen und der Beschneidung von Arbeitnehmerrechten erschöpft", sagte er dem Berliner "Tagesspiegel".

Vergangene Woche hatte CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer ein Konzept für mehr Wachstum und Beschäftigung vorgestellt, nach dem der Kündigungsschutz bei Neueinstellungen in Firmen mit bis zu 20 Mitarbeitern in den ersten drei Jahren nach Einstieg in das Unternehmen sowie bei über 53-Jährigen außer Kraft gesetzt werden soll. Arbeitnehmer sollen demnach teilweise auch unter Tarif bezahlt werden können.

Unter den Wählern finden die Pläne eine unterschiedliche Bewertung. 39 Prozent der Deutschen halten die Vorschläge Meyers für "die richtige Richtung", 48 Prozent der 1000 Befragten lehnen sie jedoch ab, wie aus einer neuen TNS-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL hervorgeht. Bei den 18- bis 29-Jährigen kommt der Vorschlag besser an: 46 Prozent der Jüngeren sind für eine Lockerung der Kündigungsregeln.

Zuspruch erhält der Generalsekretär auch aus den eigenen Reihen. 58 Prozent der CDU-Anhänger finden den Plan gut, ebenso wie 63 Prozent der FDP-Wähler. Demgegenüber lehnen 64 Prozent der SPD-Sympathisanten und 61 Prozent der Grünen-Anhänger die Vorschläge ab.

 

Der Spiegel Online

Nur mal so zwischendurch eine kleine Rückblende auf die Ideologie von 1988 (IGM Remscheid)

 

 

26. Juli 2004

Die Union behält den Kündigungsschutz im Visier: Nach CDU-Fraktionsvize Friedrich Merz sprach sich auch Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff gegen einen gesetzlichen Kündigungsschutz aus. Die Regelung sei für Arbeitnehmer schädlich, sagte der stellvertretende Parteichef.

Das "so heilig gesprochene Kündigungsschutzrecht" diene im Grunde nur noch der Beschäftigung von Arbeitsgerichten und Rechtsanwälten, sagte Wulff der "Berliner Zeitung". "Wenn es wirklich die Menschen vor der Arbeitslosigkeit bewahren würde, dann hätten wir hier nicht sechs Millionen Arbeitslose", sagte der Regierungschef von Niedersachsen.

In Deutschland sei es zwar zwei Mal schwieriger als in den USA, arbeitslos zu werden, es sei aber auch 13-mal schwieriger, wieder eine Arbeit zu finden. "Damit richtet sich der Kündigungsschutz gegen die, die geschützt werden sollen", sagte Wulff.

Kritik an Merz kam vom Arbeitnehmerflügel der CDU und aus der CSU. Auch SPD-Chef Franz Müntefering lehnte die Vorschläge ab: "Das sind Dinge aus der Gedankenwelt des kalten Kapitalismus. Das ist der Abschied von der sozialen Marktwirtschaft", sagte Müntefering.

 

Der Spiegel Online

Während - sie oben - die SPD reklamiert, andere Parteien huldigen dem Kapitalismus, hat sie selbst eine Situation heraufbeschworen, die absurder nicht sein kann. Denn die "Arbeiterpartei" hat die Arbeiter gegen sich - besser gesagt, die Arbeitslosen. Für die, die sie eintreten wollte und sollte, die, die auf sie gesetzt haben, sind nun entsetzt über die SPD.

 

 

 

 

 

 

 

 

Und mit erbärmlicher Hilflosigkeit scheint die Schröder-SPD- Regierung allmählich zu begreifen, was Politik im Inneren zusammenhält: Kommunikation.
Doch lahmarschiger als solche Erklärungen geht es kaum noch; es steht zu befürchten, dass die Regierung auch diesen Deal wieder handwerklich vermasselt wie der dusseligste Lehrling. 

 

Der Spiegel Online

Revolution gefällig ?

Wer schon einmal für die Revolution proben will, hier die altbewährten Arbeiterlieder zum Üben (mp3-Files):

Die Internationale
Wenn wir schreiten Seit an Seit'
Brüder zur Sonne, zur Freiheit
Mecki Messer Song
We shall overcome
 

 

Einer von uns beiden ist bekloppt

Entweder ist der Staat, in dem ich zufällig zwangsweise lebe bekloppt – oder ich bin es. Da der Staat, schon aus juristischen Gründen, nicht bekloppt sein soll oder darf oder kann oder muss oder will oder wie auch immer, bin ich es wohl. Jedenfalls halte ich Texte wie die folgenden für - aber ich sagte ja schon, dass es an mir liegt.

Wer sich das Ganze, das ja nicht bekloppt sein kann, weil es der Staat niemals wäre, zu Gemüte (dem eigenen bekloppten) führen möchte, hier ist der PDF-File mit 28 Seiten. Völlig unbekloppt natürlich.