"Wir haben hier keine bleibende Stadt, aber die
zukünftige suchen wir."
Bibel, Hebräer 13, Vers 14 Vielleicht ist dieser
Satz im Kontext mit den anderen noch verständlicher und macht vor allem -
auch ohne tiefe christliche Überzeugung - noch mehr Sinn: "Darum hat auch
Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten
draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager
und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir." (Hebr 13, 12-14). Es sei hinzugefügt,
dass exegetisch gesehen (die Bibel auslegend) dieses Passage zu einer der
heikelsten, weil wegen des textlichen Zusammenhangs mit jüdischen
Opferritualen schwer interpretierbaren zählt.
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"D. h. [Das heißt] wir sind alle nur Gäste hier auf
dieser Welt, daher haben wir nicht das Recht ande[re] Menschen zu töten
{oder zu verfolgen} bloß weil sie eine andere Sprache sprechen, oder eine
andere Hautfarbe haben. (Spruch von † Pater Leppich)"
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Dass dieser Brandanschlag schockierte, steht außer
Frage. Warum er in so kurzer Zeit - binnen Stunden - zu einer Eskalation
der Gewalt führte, kann nur aus dem gesamtpolitischen und
gesellschaftlichen Zusammenhang der damaligen Zeit verstanden werden. Bei
aller Wut, allem Entsetzen, aller Abscheu, die jeder einzelne bei diesen
Morden empfunden hat, es gibt Gräueltaten auf dieser Welt, die hatten und
haben noch größere, noch unmittelbarere, noch bedrohlichere Ausmaße und
werden dennoch in einer scheinbaren, eigentlich unverständlichen
Lethargie von der "Allgemeinheit" hingenommen - über die Panik der
unmittelbar Betroffenen, derjenigen, die es miterleben oder ansehen
mussten, hinaus.
In den Tagen des Sommers 1993 gärte eine quälende
Debatte über Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass, die durch etliche so
interpretierte "Vorläufertaten" in Rostock und Mölln angefacht wurde und
sich in Solingen - als Metapher gesprochen - wie in einem Gewitter
entlud.
Zeichen dafür ist, dass es nicht nur in Solingen zu
Ausschreitungen und regelrechten Krawallen kam. Die FAZ berichtete am 3.
7. 93 über gewalttätige Zwischenfälle z. B. auch in Hamburg, Flensburg
und Gelsenkirchen. Türken verprügelten dort einen Mann, den sie aus dem
Auto gezerrt hatten, weil er sich gegenüber den Demonstranten über die
Behinderungen beschwert hatte. Andernorts wurden Selbstverbrennungen
angedroht. Geradezu harmlos dagegen Graffiti- und Hasstiraden gegen
Häuser von Politikern; da wurden dann "FDP und Reps" in einen Topf
geworfen. Die Republikaner, so über 70 % der Bevölkerung, sollten
schleunigst verboten werden. In den Niederlanden rief "Radio 3" zu einer
Postkarten-Protestaktion gegen die "Ereignisse in Solingen" auf. Hier
zeigte sich wieder einmal die Unfähigkeit mancher Journalisten, zu
differenzieren: aus einem singulären Ereignis, so schlimm es war, wurden
flugs "Ereignisse", als ob es der Mordanschläge dutzende gegeben hätte. |
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Wie neutral ist die Justiz?
Die Frage, wer der oder die Täter waren, ist bis
heute nicht geklärt. Es gibt Verurteilte, was aber nicht heißt, dass die
Verurteilten zwingend die Täter gewesen sein müssen - es logischerweise
auch nicht ausschließt. Am 2. Juni, drei Tage nach der Tat, ist die
Bundesanwaltschaft in Karlsruhe sicher, dass es ein singulärer Täter ist,
der dem Brandhaus schräg gegenüber wohnt. Seine Aussagen zu Mittätern
werden an diesem Tag als falsch angesehen und weitere Fahndungsaufrufe
abgesetzt. Der Jugendliche wird laut dpa als "aggressiv" eingestuft, der
häufig in Schlägereien mit Türken verwickelt gewesen sein soll - wohl
auch im "Bärenloch", einem unmittelbar angrenzenden Grün- und
Freizeitgelände.
Verurteilt wurden aber dann schließlich 4
Jugendliche, von denen 2 bis heute definitiv die Tat bestreiten. Es gibt
eine Reihe von später zur Verurteilung führenden Indizien und
Schlussfolgerungen, die unter vielen Menschen, gerade in Solingen,
aufgrund von Ortskenntnissen, Gewohnheiten und logischen Zusammenhängen
die Zweifel nicht ausräumen konnten, dass die Justiz, die Politik und die
öffentliche Meinung zum Schluss nicht mehr damit fertig wurde, dass nur
ein einzelner die Tat begangen haben sollte. Zu sehr war das Klischee vom
Fremdenhass, von der Ausländerfeindlichkeit, vom "braunen Solingen" (die
Zeit ihrer neueren sozial-politischen Geschichte eher immer eine "rote
Stadt" gewesen ist) in den Köpfen verankert. Man brauchte ganz einfach
den radikalisierenden "Trend", um mit dem Phänomen und der Gewaltspirale,
die in Solingen ausgelöst - aber auch wieder recht bald gelöscht wurde -
fertig zu werden.
Diese "Angewohnheit" der so genannten öffentlichen
Meinung, Angst zu verbreiten, die sich auf nichts als bloße Phantasie
stützt, ist bis heute nicht überwunden. Man denke an die zynische,
menschenverachtende, aberwitzige Begründung der us-amerikanischen
Bush-Administration zur Begründung eines "notwendigen" Irak-Krieges, zu
der Massenvernichtungswaffen herbeifabuliert wurden, deren Existenz nie
bewiesen werden konnte.
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Meine Quintessenz aus den 93er-Ereignissen in Solingen: |
Der Hass
auf "die Türken" ist weder ein Hass auf diese Nation noch auf deren
Religion geschweige denn auf "andere Länder" im geografischen Sinne. Es
ist der Hass auf sich selbst. Der Neid, dass es jemanden besser geht als
einem selbst. Wenn Politik versagt hat, dann nicht "in den Tagen von
Solingen". Sondern das System "Kapitalismus" in Form des globalen
Wettbewerbs, in dem jeder alleingelassen wird und - so bitter es klingt -
das System "Demokratie" als neutrale liberale Offenheit allem gegenüber.
DIE NATUR des Menschen ist, sich selbst im
Mittelpunkt und die eigenen Belange als die Maxime der Wertigkeiten sehen
zu wollen - oder sogar zu müssen. Weder damals, noch davor, noch heute
sind die Sprüche und Diskussionen verstummt, dass "die Ausländer", vor
allem "die Türken" immer genau wissen, "wo es was zu holen gibt", aber
letztendlich nichts dafür tun wollen. Das ist so wahr und wahrscheinlich
in exakt gleichem Umfang richtig, wie dies auch für Deutsche, für
Niederländer und Schweizer, Chinesen und Kanadier, für Menschen ganz
generell gilt. Doch solch ein Verhalten einzelner, die nur etwas
ausnutzen wollen und dies auch offen zelebrieren, erzeugt Wut bei
anderen. Die dann denken: Warum muss ich arbeiten und "der" nicht?, warum
geht es "dem" gut und mir nicht?, warum ist "der" erfolgreich und ich
nicht?, warum bekommen "die" Unterstützung und ich nicht?
NICHTS STÖRT das Empfinden von Gerechtigkeit mehr, als Ungerechtigkeit
ansehen oder erleben zu müssen und sich nicht dagegen aktiv auflehnen zu
dürfen oder zu sollen. Die größte Ungerechtigkeit, die einem widerfahren
kann, ist, dass der anderen Menschen Ungerechtigkeit ungesühnt bleibt. Da
ist Selbstjustiz gewissermaßen vorprogrammiert. ALLE
VÖLKER wie auch einzelne Menschen, dies scheint wie ein Naturgesetz,
leben nun einmal in einem Wettbewerb, bei dem man jeweils selbst der
Sieger und "Bessere" sein will. Toleranz üben kann gut der, der sich
selbst und seiner Dinge (sprich Besitz, Status, Einfluss usw.) sicher
ist. Wer um solche Anerkennung oder Besitztümer, um Einfluss und Geltung
kämpft, für den ist jeder ein Feind. Und Feinde, die auch noch
Unterstützung erfahren, sind doppelte Feinde. So schaukeln sich Hass und
Wut durch Enttäuschung und empfundene eigene Ohnmacht hoch.
MIT DIESEN GEFÜHLEN, zu denen Aggression als
biologisch-selbstverständliches Instrumentarium gehört, richtig
umzugehen, im globalen Wettbewerb geistig gerüstet und mental auf die
Verschiedenartigkeit von Werten und Wirkungen vorbereitet zu sein, das
war weder in den damaligen 90er Jahren tatsächlich und faktisch ein
Erfolg von Schule, Gesellschaft, Politik und Medienarbeit gewesen Und ist
es vielleicht heute noch nicht, vielleicht ist es aber (hoffentlich)
einen winzigen Schritt doch vorangekommen, weil die Ereignisse des
täglichen Lebens selbstregulierend wirken und man mit dieser Offenheit
der Welt, die zugleich die Chancen und Möglichkeiten des einzelnen
verkleinert, ein wenig umzugehen gelernt hat. VIELE
MENSCHEN haben sich in diesen Tagen, 10 Jahre nach dem Brandanschlag von
Solingen, in dieser Stadt gefragt, ob sie ganz persönlich mit der
"Integration" von "Ausländern" und "Deutschen" vorangekommen sind.
Solange sie das denken, wird es damit nichts werden. Sind wir
vorangekommen, miteinander, aber jeder anders, "nach seiner Fasson und
Seligkeit" zu leben, haben wir globalen Wettbewerb begriffen als die
Voraussetzung, aber nicht das Ziel von offener Demokratie? Wenn wir das
bejahen können, wissen wir auch, wie wir "Solingen" in Zukunft vielleicht
vermeiden können: wir müssen Toleranz trainieren und Gegensätze
aushalten, ohne Stress zu empfinden. Das, dieser Bewussteinsprozess und
diese öffentliche Aufgabe, wird wohl der einzige Weg sein, Gewalt durch
Vernunft zumindest weitgehend im Zaum zu halten.
TOLERANZ ÜBEN, so sagte ich weiter oben, kann aber
nur derjenige, der selbst in sicherer und ruhiger Lage ist. Solange es
uns gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich nicht gelingt, die
Chancen und Möglichkeiten des einzelnen Menschen so zu organisieren, dass
es den unterschiedlich denkenden und wertenden Menschen allesamt "recht
ist", wird sich wieder Hass und Gewalt aufstauen und irgendwann,
irgendwie, irgendwo explodieren. Hans-Georg
Wenke, 10 Pfingsten später |
Persönliche Anmerkung: Der Tatort an der Unteren
Wernerstraße liegt in meiner unmittelbaren Wohnumgebung; meine
Schwiegereltern haben seinerzeit nur 200 Meter vom Brandhaus entfernt
gewohnt. Wir haben alle die Ereignisse, vor allem die Tage der Gewalt,
persönlich hautnah miterlebt. |