| Der Spiegel 32/2004, 2. 8. 04 | 
         
           | "Wir brauchen eine neue Ideologie" 
 Die Kanzler-Freunde Günter Grass, Peter Glotz und Markus Lüpertz 
           über den Niedergang der deutschen Sozialdemokratie, die Fehler der 
           Wiedervereinigung, Illusionen des Sozialstaats und die Frage, was 
           eine Nation zusammenhält
 
 
 
             
               
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                   DPA 
                   Kanzler Schröder, Mitarbeiter: "Die Agenda 
                   2010 hätte 1999 stattfinden können" |  SPIEGEL: Herr Grass, Sie waren auf dem 60. Geburtstag von 
           Gerhard Schröder zu Gast und hinterließen ihm in einer privaten 
           Zueignung das Versprechen: "Ich aber höre nicht auf zu quengeln." Was 
           genau stört Sie an Ihrer SPD?
 Grass: Es ist die alte Krankheit, dass Sozialdemokraten 
           Hemmung haben, zu ihren Leistungen zu stehen. Sie bringen etwas in 
           Gang, bewegen etwas, und wie das in einer demokratischen Gesellschaft 
           nicht anders sein kann, ist das, was sie bewegen, von Kompromissen 
           belastet. Und dann sagen sie: Wir hätten es eigentlich noch besser 
           machen können, aber es ist uns diesmal nicht gelungen. Punkt zwei ist 
           die Kommunikation mit den Menschen, die zum Teil in ein unglaubliches 
           sprachliches Kauderwelsch absinkt. Ein Mann wie Hans Eichel, der sich 
           anfangs als Finanzminister dadurch auszeichnete, dass er komplizierte 
           Sachverhalte klar darstellen konnte, ist offenbar derart in Beweisnot 
           geraten, dass er nicht mehr in der Lage ist, reale Zwänge so 
           auszusprechen, dass sie begriffen werden. Aber nur das, was die 
           Menschen begreifen, können sie auch akzeptieren.
 
 SPIEGEL: Herr Glotz, Sie waren vielen SPD-Vorsitzenden, 
           -Kanzlern und -Kanzlerkandidaten zu Diensten. Sie haben Ihre Partei 
           stets vor einem machtfernen Romantizismus gewarnt, Kampagnenfähigkeit 
           nicht nur eingefordert, sondern auch organisiert. Was, glauben Sie, 
           fehlt der Sozialdemokratie heute?
 
 Glotz: Die SPD steckt in einer Falle. Die Falle besteht 
           erstens in der Tatsache - die geht auf das Konto von Helmut Kohl -, 
           dass 16
           Jahre lang die Finanzierung der Sozialsysteme nicht 
           angepackt wurde. Sie besteht zweitens in dem, was Günter Grass 
           seinerzeit immer wieder beklagt hat: in einer ökonomisch völlig 
           fehlgeleiteten Wiedervereinigung, die der Bundesregierung jetzt jede 
           Investitionskraft nimmt. Dann hat sie noch diesen Brüsseler 
           Stabilitätspakt, und in diesem Rahmen kann sie sich sehr schwer 
           bewegen.
 
 "Die Art, wie alles, was in der DDR geschaffen worden ist, abgetan 
           wurde, ist beschämend". GÜNTER GRASS
 
 SPIEGEL: Schröder, Müntefering, alle Getriebene des 
           Langzeitkanzlers Kohl?
 
 Glotz: Nicht allein: Ich werfe meiner Partei vor, dass sie 
           sich von einer Partei der Aufklärung zu einer Partei der 
           Sozialpolitik hat machen lassen. Denn dass die großen Themen der 
           kämpferischen Sozialdemokratie sozusagen in kleiner Münze der 
           Praxisgebühr ausgezahlt werden, liegt auch an der SPD selbst - und 
           man muss hinzufügen, dass sie bis 1998 in der Opposition die Parolen 
           ausgegeben hat, die jetzt ihre Gegner, zum Beispiel der sagenhafte 
           Kollege Bsirske von Ver.di, gegen sie wenden. Ich registriere 
           Verzagtheit und Kleinmut überall im Lande, auch in der SPD.
 
 SPIEGEL: Herr Lüpertz, die Kunst sollte die Menschen aus 
           Lustlosigkeit, Lethargie und Todesangst befreien, haben Sie einmal 
           gesagt. Der neue Bundespräsident versucht genau das: Zuversicht 
           einzuflößen, ohne die Zumutungen, die da kommen werden, zu 
           verschweigen. Der richtige Weg?
 
 Lüpertz: Nichts gegen den Mann; er ist sicherlich integer. 
           Aber es ist doch erstaunlich, dass dieser Mann vom Geld kommt.
 
 Glotz: Ökonomische Kompetenz spricht ja nicht gegen einen 
           Mann. Warten wir doch erst mal ab!
 
 Lüpertz: Das ist nicht der Punkt. Ich meine das als Signal, 
           als Zeichen. Vielleicht wäre es viel besser zum Beispiel, Günter 
           Grass würde Bundespräsident werden. Er ist Nobelpreisträger, er steht 
           international für Intellektualität und vieles mehr. Aber es wird ein 
           Mann genommen, der aus dem Geld kommt. Offenbar gibt es nur noch ein 
           Kriterium, und das ist Cash. Mir ist das zu wenig in dieser 
           historischen Situation, in der das Land sich befindet.
 
 SPIEGEL: Wie würden Sie diese Umbruchsituation 
           charakterisieren?
 
 Lüpertz: Deutschland ist mit der Einheit unregierbar geworden. 
           Ich bin eigentlich Bundesrepublikaner ...
 
 Glotz: ... Sie meinen, Sie sind ein Bonner Republikaner.
 
 Lüpertz: Nennen Sie es, wie Sie wollen. Alle wissen, was ich 
           meine. Diese Bundesrepublik hat eine für meine Begriffe gigantische 
           und große Arbeit geleistet. Bis zur Wiedervereinigung hat sie eine 
           eigenständige Form von neuem Deutschland aus den Trümmern geboren. 
           Diese Bundesrepublik hatte eine ganz bestimmte Qualität, weil sie in 
           sich selbst unverbraucht war. Sie war, überspitzt formuliert, 
           regierbar.
 
 SPIEGEL: Und nach der Wiedervereinigung?
 
 Lüpertz: Die Bundesrepublik ist abgestorben, und ich habe das 
           Gefühl, dass Deutschland jetzt auf Grund dieses Zusammenschlusses 
           nicht mehr regierbar ist. Denn es gibt keine nationale Identität, es 
           gibt kein Selbstverständnis, sich in irgendeiner Weise deutsch zu 
           fühlen.
 
 Glotz: Regierbar sind wir doch nicht deswegen kaum noch 
           richtig, sondern weil uns die Globalisierung das Leben schwer macht, 
           weil die Arbeitsplätze zum Beispiel nach Polen verlagert werden.
 
 Lüpertz: Alles kann man mit einem Volk machen. Man kann es 
           auch zum Sparen anhalten. Man kann ihm klar machen, dass jetzt 
           weniger da ist und dass weniger verteilt wird, wenn es an sich selbst 
           glaubt. Ist das nicht der Fall - und das erleben wir zurzeit -, haben 
           wir einen reinen Egoismus, der sich in Geld ausdrückt.
 
 SPIEGEL: Das fehlende Geld und die deutsche Einheit - 
           Schlüsselbegriffe bei der Ursachenforschung für die deutsche Misere?
 
 
 
             
               
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                   DDP 
                   Günter Grass |  Grass: Wir müssen nur zurückgehen zu dem entscheidenden 
           Datum: 1989/90. Da meinte man auch schon, alles übers Geld machen zu 
           können. Die Verfassungsväter hatten der alten Bundesrepublik 
           aufgegeben, dass im Fall der Wiedervereinigung dem deutschen Volk 
           eine neue Verfassung vorgelegt werden müsse, was im Grunde eine 
           Neugründung des Staates bedeutet hätte, aber das hat man vermieden. 
           Man hat die Einheit über den Beitrittsartikel vollzogen, und das 
           rächt sich nun.
 Glotz: Das hat man leider überparteilich falsch gesehen. Die 
           Sozialdemokraten haben
           mitgemacht. Das ist ein gemeinsamer Fehler der 
           beiden Volksparteien.
 
 Grass: Wir haben die Erfahrung, dass 40 Jahre lang zwei 
           deutsche Staaten nebeneinander existierten. Nicht nur wir im Westen 
           haben aufgebaut; auch der Osten hat unter beschränkten Möglichkeiten 
           aufgebaut. Die Missachtung der östlichen Leistung - bleiben wir mal 
           in unserem Kunstbereich -, die Art und Weise, wie alles, was in der 
           DDR trotz Diktat und Zensur geschaffen worden ist, abgetan wurde, das 
           war beschämend. Grässliche Verdikte wurden verhängt. Wir sind nicht 
           in der Lage gewesen, diese Leistung anzuerkennen.
 
 SPIEGEL: Und das wirkt bis heute?
 
 Grass: Es steht dem im Wege, was Herr Lüpertz eingeklagt hat, 
           dass man nicht zusammenkommt, dass in manchen Bereichen, weil dann 
           auf ostdeutscher Seite die Enttäuschung einsetzt, die Trennung heute 
           gravierender ist als zur Zeit der Mauer.
 
 Lüpertz: Präzise.
 
 Grass: Das ist ein klägliches Ergebnis.
 
 SPIEGEL: Lässt sich das nachholen? Die Dohnanyi-Kommission 
           denkt ja heute kritischer über den Aufbau Ost. Viele, die Sie, Herr 
           Grass, damals kritisiert haben ...
 
 Grass: ... schweigen heute, ja ...
 
 SPIEGEL: ... kommen heute zu der Erkenntnis, dass Ihre Kritik 
           so ganz falsch nicht war, dass man vielleicht langsamer schneller 
           vorangekommen wäre.
 
 Grass: Ich habe mit Ihrem großen Vorsitzenden im SPIEGEL, 
           Rudolf Augstein, ja darüber mal eine Auseinandersetzung gehabt. Er 
           hat mir auf jedes Argument gesagt: Der Zug ist abgefahren. Wie ein 
           Bahnhofsvorsteher hat er reagiert.
 
 Glotz: Es gab viele Bahnhofsvorsteher damals.
 
 Grass: Es gab keine Bereitschaft mehr hinzuhören. Im 
           Gegenteil: Man wurde als vaterlandsloser Geselle und als Feind der 
           Einheit diffamiert.
 
 SPIEGEL: Der große Vorsitzende kann uns womöglich zuhören, 
           aber sich nicht einmischen. Also lassen wir das. Lässt sich heute 
           noch etwas korrigieren?
 
 Grass: Aber natürlich. Wir müssen alles nachholen, was wir 
           1990 versäumt haben. Wir brauchen eine neue Verfassungsdebatte, in 
           der auch die Ostdeutschen zum ersten Mal wirklich die Möglichkeit 
           haben, soweit das noch möglich ist, ihre Erfahrungen während 40 
           Jahren Diktatur und auch 40 Jahren Eigenleistung einzubringen.
 
 Glotz: Sie haben vorhin das Stichwort "Zumutungen" genannt. 
           Darauf hat Markus Lüpertz gesagt: Weil dieses Land keine Identität 
           hat, geht es nur noch um Geld, und deswegen sind die Zumutungen so 
           schwierig. Ich glaube, da ist etwas dran, und dennoch würde ich gern 
           weiter zurückgehen: Wir haben natürlich alle eine ganze Zeit lang 
           geglaubt, dass diese Wachstumsperiode von 1950 bis 1975 ökonomisch 
           weitergehen würde. Das ist der Urfehler, den wir gemacht haben. Ich 
           kritisiere nicht die Adenauer-Zeit. Da hatten wir ein Wachstum, mit 
           dem man die Sozialpolitik machen konnte, die Adenauer betrieben hat, 
           auch Brandt noch.
 
 SPIEGEL: Helmut Schmidt war der erste Kanzler, der die 
           Globalisierung sah, der ein Umsteuern versucht hat.
 
 Glotz: Schmidt hat es ja begriffen, dass eine neue Zeit 
           begonnen hat, aber meine Partei ist Schmidt nicht gefolgt, ist 
           Schiller nicht gefolgt. Denken Sie an die drei ökonomisch wirklich 
           kundigen Sozialdemokraten, die wir hatten: Das waren Karl Schiller, 
           Helmut Schmidt und Alex Möller. Schiller und Möller sind 
           zurückgetreten. Schmidt - ich werde es nie vergessen - hat unseren 
           Leuten in der Fraktion gesagt, man müsse noch viel tiefer in das 
           soziale Netz schneiden: "Das ist mit euch nicht zu machen. Deswegen 
           muss ich zurücktreten." Das war 1982. Der Mann hatte Recht.
 
 SPIEGEL: Schröder macht da weiter, wo Schmidt aufgehört hat. 
           Sozialabbau, rufen die heimatlosen Linken. Die Reformen sind 
           unverzichtbar, erwidert ein zunehmend stoischer Kanzler. Wer hat 
           Recht?
 
 "Ich registriere Verzagtheit und Kleinmut überall im Lande, auch 
           in der SPD". PETER GLOTZ
 
 Grass: Wir sind für unseren gezähmten Kapitalismus bewundert 
           worden. Es ist sinnlos und wäre auch falsch zu sagen, wir müssten 
           jetzt das soziale Netz zerschlagen. Dafür gibt es ja Anstrengungen 
           genug. Nein, nach wie vor wird die soziale Sicherung der Menschen, 
           die ein Arbeitsleben
           hinter sich haben, und der jungen Menschen, die noch 
           gar nicht eingestiegen sind, im Vordergrund stehen.
 
 Da liegt sicher auch ein Fehler dieser Regierung, dass sie nicht 
           während der ersten Legislaturperiode an die Großverdienenden, an die 
           Besserverdienenden herangegangen ist. Natürlich wäre eine höhere 
           Erbschaftsteuer richtig.
 
 Glotz: Ich fürchte, man ist auf dem falschen Trip, wenn 
           zumindest ein Teil der SPD - nicht Schröder, aber der linke Flügel - 
           nun glaubt, das Problem könne man dadurch lösen: höhere 
           Erbschaftsteuer, höhere Vermögensteuer, Ausbildungsabgabe. Das sind 
           alles Instrumente, die nicht funktionieren werden. Leider sind die 
           Steuerberater immer informierter und geschickter als die 
           sozialdemokratischen Programmatiker und die Finanzbeamten.
 
 SPIEGEL: Was eine Vielzahl Ihrer Genossen nicht davon abhält, 
           es immer aufs Neue zu versuchen.
 
 Glotz: Wir wiederholen einen Prozess, den wir in den siebziger 
           Jahren - ich war damals Staatssekretär im Bildungsministerium - schon 
           mal versucht haben. Es ist die Grundidee, die mich stört: Wir müssen 
           jetzt leider unserer eigenen Klientel Zumutungen bieten. Wenn wir das 
           tun, dann sollen gefälligst auch die Reichen, die Besserverdienenden 
           - ich kann das Wort schon nicht mehr hören - bluten. Das ist ein zu 
           primitives Modell.
 
 SPIEGEL: Sie waren einst einer der glühendsten 
           Lafontaine-Anhänger.
 
 Glotz: Ich bin nach wie vor ein guter Freund von Oskar 
           Lafontaine und halte ihn für menschlich zuverlässig. Die archaische 
           Wirtschaftspolitik, die er in seinen heutigen Zeitungskolumnen 
           fordert, halte ich allerdings nicht für richtig.
 
 SPIEGEL: Was bedeutet dann heute links? Oder ist das eine 
           Terminologie, die auch für Sie, der Sie in der Geschichte der SPD 
           tief verankert sind, keine Bedeutung mehr besitzt?
 
 Glotz: Ich kann links und rechts durchaus voneinander 
           unterscheiden. Jeder, der das nicht mehr kann, hat offenbar den 
           Gleichgewichtssinn verloren. Aber wenn man als links einfach 
           definiert, jetzt kassieren wir mal die Leistungsträger ab, dann ist 
           das ein Missverständnis des Kapitalismus. Da kann man gleich sagen: 
           Wir schaffen den Kapitalismus ab. Das ist bisher aber nicht besonders 
           gut geglückt.
 
 SPIEGEL: Herr Grass, was ist links?
 
 Grass: Im Fall einer Krisensituation, wie wir sie nach den 
           Terroranschlägen in Amerika gehabt haben, war die linke Reaktion von 
           Schröder, in diesen Krieg, in dieses Abenteuer nicht einzusteigen. 
           Ganz gewiss wird auf Dauer historisch herausragen, dass es dem 
           Kanzler und seinem Außenminister gelungen ist, zum ersten Mal von 
           unserer seit 1990 existierenden Souveränität wirklich Gebrauch zu 
           machen, indem sie mit sehr viel Mut und Standfestigkeit uns Deutsche 
           aus diesem furchtbaren Krieg im Irak herausgehalten haben. Und ich 
           muss auch sagen: Wie der Innenminister es verstanden hat, dieses Land 
           frei von Hysterie zu halten, das ist auch eine linke Politik, die 
           viele anerkennen.
 
 SPIEGEL: Und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik bedeutet 
           "links sein" ...
 
 Grass: ... dass man sich Alternativen zu dem überlegt, was es 
           an Ungleichheit nicht nur im eigenen Land gibt. Es geht auch um die 
           skandalöse Diskrepanz zwischen Leuten, die aus unserem Sozialsystem 
           mittlerweile ausgesteuert sind, und den horrenden Summen, die sich 
           die Chefs in den Banken und im Großmanagement zugestehen. Das ist in 
           einer Demokratie nicht mehr zu verantworten. Wenn man in dieser Sache 
           Partei ergreift, ist das eine linke Position.
 
 SPIEGEL: Links war auch immer der Ruf nach mehr Staat, dem 
           Umverteilungsstaat, dem Steuerstaat, dem Staat der 
           Investitionsprogramme. Und heute?
 
 Lüpertz: Ich bin gegen die Allmacht des Staates. Ich bin ein 
           Kind der von mir so geliebten Bundesrepublik, ein Nierentischkind. 
           Ich habe in den fünfziger Jahren den Staat nicht kennen gelernt. 
           Politik war etwas Fremdes. Die Polizei tauchte mal auf; dann war das 
           schon eine Katastrophe. In der Familie, im Alltag spielten Politik, 
           Politiker, Zurechtweisungen von der Politik, Verbote - das 
           Anschnallen im Auto, kein Handy beim Autofahren - keine Rolle. Das 
           Thema hat sich verschärft: Der Staat wird immer selbstverständlicher. 
           Die Familien haben ihre Versorgung an den Staat abgegeben. Die 
           Wirtschaft gibt die Versorgung der Arbeitslosen an den Staat ab. Es 
           gibt eine Art von Selbstverantwortung, die meiner Meinung nach nicht 
           wahrgenommen wird.
 
 Glotz: Aber was folgt aus Ihrer Sehnsucht nach den fünfziger 
           Jahren?
 
 Lüpertz: Es gibt kein Zurück. Ich finde, es sind andere 
           Ideologien denkbar als immer nur der staatliche Zugriff. Es muss doch 
           möglich sein, dass sich die Gesellschaft in bestimmten Dingen selbst 
           organisiert. Es kann doch nicht sein, dass der Staat permanent die 
           Familie, das Land, die Wirtschaft reglementiert.
 
 Glotz: Also, Sie wollen mehr Selbstverantwortung?
 
 Lüpertz: Und mehr Risiko. Ich glaube, dass der Staat für die 
           Lösung vieler Aufgaben ungeeignet ist, weil er sich zu sehr auf das 
           Spiel von Geld, von Reich und Arm, den Reichen nehmen, den Armen 
           geben, einlassen muss und sich ständig Dinge einfallen lässt, um die 
           Belastungen zu erhöhen. Wenn man 56 Prozent Steuern zahlt, dann ist 
           das Wucher. Es ist bis jetzt noch keinem etwas anderes eingefallen, 
           als immer nur etwas zu erhöhen und zu verschärfen. Es geht ja nicht 
           darum, dass man nicht bereit ist, etwas zu bezahlen. Man ist ja 
           bereit, permanent zu zahlen. Es geht einfach darum, dass Erfolg 
           mittlerweile eine Art von Fluch geworden ist.
 
 SPIEGEL: Mit Verlaub: Das ist nicht gerade eine 
           sozialdemokratische Position, die Sie da vertreten.
 
 Lüpertz: Ich bin kein Sozialdemokrat.
 
 Glotz: Er ist ein Freund von Schröder.
 
 Lüpertz: Das ist etwas ganz anderes.
 
 Grass: Es ist die neoliberale Position. Die ist sattsam 
           bekannt. Die ist, wie ich finde, auf eine deprimierende Art und Weise 
           auch erfolgreich, nämlich mit dem Ergebnis, dass wir in vielen 
           Bereichen zu wenig Staat haben. Ich widerspreche Ihnen diametral. Der 
           Einfluss der Lobby, der Interessenverbände,
           ist nie so stark gewesen wie in unserer Zeit. Sie 
           bekommen zum Beispiel im Bereich Gesundheitsreform das Gesetz nicht 
           durch, wenn es nicht vorher von der Pharmaindustrie, von den 
           Apothekerverbänden, von den Ärzteverbänden und von den Kassen 
           abgenickt wird. Eine Eindämmung der Lobby, eine Art Bannmeile 
           bräuchte man. Ich behaupte: Der Einfluss des Staates ist zu gering.
 
 Glotz: Ich oute mich jetzt mal als 
           Karl-Schiller-Sozialdemokrat. Wir sind in der Tat in einer Situation, 
           in der wir nicht mehr ein Proletariat haben, für das wir so vorsorgen 
           müssen, wie wir für das Proletariat vorsorgen mussten im späten 19. 
           Jahrhundert oder auch noch in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts. Der 
           Hinweis von Günter Grass, dass es noch Armut gibt, auch neue Armut, 
           halte ich für absolut richtig.
 
 Grass: Wachsende Armut!
 
 Glotz: Auf der anderen Seite sage ich: Der Satz "Wir müssen 
           uns nicht um die Besserverdienenden sorgen" ist falsch. Wenn wir die 
           Motivation dieser fünf Prozent von Wissensarbeitern, die den 
           Kapitalismus am Laufen halten, zerstören, wird das Wachstum so 
           absinken, dass wir Machtkämpfe bekommen, Verteilungskämpfe, die so 
           brutal sind, wie wir sie uns gar nicht mehr vorstellen können.
 
 Lüpertz: Die gehen weg, die kämpfen nicht.
 
 SPIEGEL: Welche Rolle könnten und sollten heute Begriffe wie 
           Eigenvorsorge und Selbstverantwortung spielen?
 
 Grass: Wir haben immer weniger Jugendliche, wobei diese 
           Jugendlichen dennoch keinen Ausbildungsplatz finden. Es gibt die 
           älteren Menschen, die zum Teil durch Arbeitslosigkeit, durch 
           Langzeitarbeitslosigkeit aus dem herausgeworfen werden, was das 
           Bruttosozialprodukt ergibt. Sie befinden sich mehr und mehr außerhalb 
           der Gesellschaft. Wir müssen aufpassen, dass für Großverdiener das 
           Ausmaß des Mitleids nicht ungeheure, fast religiöse Dimensionen 
           annimmt.
 
 "Wenn das Gemeingefühl nicht mehr trägt, sind den Politikern die 
           Hände gebunden". MARKUS LÜPERTZ
 
 Lüpertz: In anderen Systemen, zu anderen Zeiten haben immer 
           Leute in der Scheiße gesessen. Das gibt es nun mal in irgendeiner 
           Form. Daran arbeiten ja die Sozialdemokratie und viele andere 
           Parteien auch, damit das eben besser wird. Es geht doch jetzt darum: 
           Was passiert mit Deutschland? Was passiert mit jener Gruppe, die die 
           Bundesrepublik immer ausgezeichnet hat, dem Mittelstand? Nur ein 
           Bruchteil der Leute ist in der Hochfinanz, in diesem ganzen Manager- 
           und Lobbyistenbereich beschäftigt. Die meisten Menschen arbeiten in 
           Betrieben, in Geschäften, in Arztpraxen, sind Anstreicher oder 
           Metzger. Diese Schicht ist im Moment bedroht, dort sind die meisten 
           Pleiten, die meisten Arbeitslosen. Das ist das Gespenstische, dass 
           dieser Kraftmuskel des Landes erschlafft.
 
 SPIEGEL: Hieß diese Bevölkerungsschicht nicht bis vor kurzem 
           neue Mitte?
 
 Grass: Dem Mittelstand muss man auf jeden Fall helfen, keine 
           Frage. Das ist allerdings nicht nur eine Frage des Staates. Die 
           großen Schwierigkeiten liegen auch im Umgang mit den Banken. Man muss 
           sich einmal vorstellen, dass es in Ostdeutschland eine Vielzahl von 
           kleinen Handwerkern gegeben hat, die sich über die 40 Jahre 
           DDR-Herrschaft gerettet haben. Dann kam die Vereinigung, und sie 
           bekamen keine Kredite bei den Banken.
 
 SPIEGEL: Der unternehmerische Mittelstand und die 
           soziologische Mitte der Gesellschaft wenden sich zu großen Teilen ab 
           von der Volkspartei SPD. Warum? Zu viele Reformen oder zu wenige?
 
 Lüpertz: Die Probleme reichen weit über die SPD hinaus. Ich 
           glaube, wenn man keine Ideologie hat, die einen bindet, dann ist es 
           schwierig, ein 80-Millionen-Volk, einen 80-Millionen-Moloch in eine 
           ganz bestimmte Richtung zu bewegen. Wenn Sie immer diese 
           Feindschaften aufbauen - der Staat, die da oben, immer nur dieses 
           "das nutzt mir nichts" -, wenn das Gemeingefühl nicht mehr trägt, 
           dann sind Ihnen als Politiker die Hände gebunden. Wir brauchen eine 
           Ideologie.
 
 Grass: Wer will denn eine haben?
 
 Lüpertz: Sie brauchen als Nation eine Ideologie, um sich zu 
           verständigen.
 
 Glotz: Er meint eine tragende Idee, ein Konzept.
 
 Lüpertz: Ideologie und Identität - wollen Sie das trennen? 
           Dann haben Sie keine Sprache mehr. Wenn Sie kein Ideal davon haben, 
           was Sie wollen, dann können Sie auch nichts mehr vermitteln. Dann 
           können Sie nur noch Ihren kleinen, individuellen Kosmos befriedigen.
 
 Glotz: Was Herr Lüpertz meint, ist: Ein Staat wird nicht 
           zusammengehalten durch ein vernünftiges System von Gütern und 
           Dienstleistungen, sondern du brauchst irgendein Mehr.
 
 Lüpertz: Du brauchst eine Identität, du brauchst eine Sprache, 
           eine Einheit, irgendetwas außerhalb des Normalen.
 
 Grass: Besinnen wir uns doch auf das, was bei uns tragfähig 
           war und weiterhin sein könnte. Das ist erst einmal das, was uns 
           geschenkt worden ist - wir haben es uns ja gar nicht so sehr 
           erkämpft: die Demokratie. Wir haben sie weiterentwickelt. Wir haben 
           das Glück gehabt, dass es zur Einheit gekommen ist - nicht zur 
           Einigung, zur Einheit einigermaßen. Die Kraft zur Erneuerung können 
           wir nicht aus einer Ideologie gewinnen, sondern nur aus einer 
           gelebten Demokratie.
 
 Lüpertz: Aber was nutzt die Demokratie, wenn 
           sie nicht begriffen ist? Wenn sie nicht benutzt wird?
 
 Grass: Wir tun so, als wäre die Bundesrepublik am Ende. Wir 
           können uns in vielen Bereichen, selbst im Bereich der Forschung, 
           sehen lassen. Es ist nicht so, dass wir in allen diesen Bereichen 
           Schlusslicht sind, wie es dauernd behauptet wird. Das ist absolut 
           nicht der Fall.
 
 Lüpertz: In der Kultur sind wir führend.
 
 Grass: Mein Gott, welch ein Reichtum in einem Land mit dieser 
           kulturellen Vielgestalt! Fahren Sie nach Frankreich, da ist es nach 
           wie vor nicht gelungen, den Wasserkopf Paris zu entlasten. Außerhalb 
           ist alles Provinz. Ich bin gegen die Überbetonung der Hauptstadt 
           Berlin. Wir haben - eine ironische Frucht des Dreißigjährigen Krieges 
           - durch die Aufteilung Deutschlands in Kleinstaaten überall noch 
           bespielbare Residenztheater, Museen und anderes, eine kulturelle 
           Substanz. Die Frage ist, ob wir nicht bei unserem dauernden Gezänk 
           dabei sind, auch das noch kaputt- und kleinzureden.
 
 SPIEGEL: Um die politische Kultur, genauer: um die Kultur der 
           Volksparteien ist es weniger gut bestellt. Austrittswelle, 
           Vergreisung, Wahlenthaltung sind die Stichwörter.
 
 Glotz: Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir die 
           Großorganisationen - katholische Kirche, SPD, aber auch IG Metall des 
           Jahres 1970 - nicht wiederkriegen. Ich habe jetzt 40 Jahre lang 
           irgendwo an Kathedern gestanden und bin mit Studenten umgegangen. Sie 
           kriegen die Studenten in St. Gallen weder als Mitglieder der SPD noch 
           der CDU oder der FDP. Diese klassische feste Mitgliedschaft mit 
           Zahlabend in der Gaststätte "Zur grünen Linde", das ist vorbei.
 
 SPIEGEL: Die Alternative ist allerdings nicht in Sicht.
 
 Glotz: Wir brauchen Quereinstiege. Was glauben Sie, wie hoch 
           meine Telefonrechnungen waren, als ich erst Günter Verheugen und 
           später Otto Schily in der SPD durchsetzte. Da waren alle dagegen. Ich 
           werde nie vergessen, wie bei Verheugen die Frauen auf mich zuliefen, 
           weil ich ihnen irgendeinen Frauenlistenplatz wegnahm. Genauso bei 
           Schily in Bayern. Und heute sind das zwei der stärksten Politiker, 
           die die SPD überhaupt hat.
 
 Ich habe noch Zeiten erlebt, wo ein Vorstandsvorsitzender zu Herbert 
           Wehner ging und feuchte Hände hatte, weil er zu Herbert Wehner ging. 
           Heute sehe ich nur Politiker, die feuchte Hände bekommen, wenn sie zu 
           Heinrich von Pierer gehen oder zu Jürgen Schrempp.
 
 Grass: Wir können nicht einklagen, dass wir bis in die 
           achtziger Jahre hinein Politiker hatten, die gebrochene Existenzen 
           waren und dadurch Charakter gewonnen haben. Auch wenn man feuchte 
           Hände hatte auf dem Weg zu Herbert Wehner, wusste man, man kam zu 
           jemandem, der ein Vulkan war. Seine Vergangenheit hat ihn geformt. 
           Wir können diese junge Generation nicht dafür anklagen, dass sie 
           keinen Krieg durchgemacht hat. Sie ist von der Friedenszeit geformt 
           worden und so geworden, wie sie ist - ein bisschen langweilig und 
           austauschbar. Damit müssen wir wirtschaften.
 
 SPIEGEL: Jetzt haben wir die Kritik des Volkes an seinen 
           Politikern diskutiert. Es geht aber auch umgekehrt. Schröder findet, 
           die Deutschen seien zu unbeweglich. Sind wir ein erstarrtes Volk?
 
 Grass: Wenn man ein paar Wochen ins Ausland fährt und 
           zurückkommt, hört man nur Gejammer. Die Einsicht ist mittlerweile 
           vage da: Ja, wir brauchen Reformen. Aber der zweite Satz ist: nicht 
           bei mir. Das führt natürlich zu einer Unbeweglichkeit. Das ist 
           gefährlich.
 
 SPIEGEL: Wie kann man diese Beweglichkeit herstellen, Herr 
           Lüpertz?
 
 Lüpertz: Von Ideologie will ich nicht mehr reden. Also sage 
           ich: Wir brauchen Werte. Da muss ich als Kunstschaffender immer 
           wieder auf die Kultur verweisen. Die hat eine große Arbeit geleistet 
           und hat große Arbeit zu leisten. Das heißt also, dass Ausbildung und 
           Schule nicht nur ein Überlebenskampf sind, sondern dass da auch Werte 
           im Ideellen, im Freien, im Unsinnigen, im Unmöglichen, also nicht im 
           Kommerziellen vermittelt werden.
 
 Freizeit ist eine reine Betäubungsangelegenheit. Unter meinen 
           Studenten ist kaum einer, der noch liest, wenn sie bei mir anfangen. 
           Sie zehren auf verheerende Weise von Fun, von Lustigsein. Das hat 
           eine seltsame Hohlheit. Das ist etwas, was ich der Politik nicht 
           anlasten kann. Das muss ich dem Volk anlasten.
 
 Glotz: Da ist dann aber auch eine Schwäche zum Beispiel der 
           Sozialdemokratie. Wir können nicht die Gegenkultur, die die 
           Sozialdemokratie im 19. und im frühen 20. Jahrhundert war, 
           wiederholen. Es reicht nicht, "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" zu 
           singen. Das ist vorbei. Wir müssen andere Angebote machen.
 
 SPIEGEL: Wir sprachen ja eben über Sinnstiftung. Nun hatte 
           Schröder eigentlich eine
           große Chance, nämlich in der Rede zur Agenda 2010 
           eine solche Sinnstiftung zu liefern. Er hat es nicht gemacht. Er 
           sagt, Pathos könne er nicht. Glauben Sie, dass er da eine Chance 
           vergeben hat?
 
 Grass: Ich kann bei Schröder nicht einklagen, was er auch 
           dankenswerterweise nicht hat. Er hat für einen Politiker relativ 
           wenig falsche Töne. Er spricht ein klares, schmuckloses Deutsch, 
           bringt die Dinge auf den Punkt. Mehr ist bei ihm in der Sache nicht 
           drin.
 
 Glotz: Das Problem hatten wir schon bei Helmut Schmidt, der 
           auch nicht das Charisma Willy Brandts hatte und trotzdem ein sehr 
           guter Politiker war.
 
 SPIEGEL: Liegt Schröders größeres Problem vielleicht darin, 
           dass er das, was er in der Agenda 2010 vorgetragen hat, ein bisschen 
           sehr spät entdeckt hat? Dass im Verlauf der rot-grünen Koalition 
           immer unterschiedliche Dinge gesagt worden sind? Einmal machen sie 
           eine Steuerreform; dann schmeißen sie sie in die Flut. Dann ziehen 
           sie sie wieder vor und wundern sich, dass sie sie nicht durch den 
           Bundesrat kriegen. Fehlt es an Geradlinigkeit?
 
 Glotz: Dem kann ich nicht widersprechen. Die Agenda 2010 hätte 
           mindestens 1999 oder 2000 stattfinden können. Sie hat aber erst nach 
           der Bundestagswahl 2002 und auch da erst nach einem Jahr 
           stattgefunden. Das war zu spät.
 
 SPIEGEL: Sie alle haben stramme Konservative wie Filbinger, 
           Carstens, Dregger und Strauß erlebt und bekämpft. Taugt die Union von 
           heute noch zu einem Feindbild?
 
 Grass: Da hat ein Generationswechsel stattgefunden. Dass die 
           Politiker in diesen Positionen austauschbarer sind als in den 
           zurückliegenden Jahrzehnten, trifft nicht nur auf die SPD zu, sondern 
           auch auf die CDU und die FDP. In allen Parteien gab es auf Grund der 
           Generationserfahrung ausgeprägtere Persönlichkeiten, bis zur 
           Unerträglichkeit - ob Wehner oder Strauß. Das waren ja Brocken, an 
           denen man in der Tat auch scheitern konnte innerhalb der eigenen 
           Partei. Das waren Bollwerke. Die gibt es heute nicht mehr, aber die 
           soll man sich vielleicht auch gar nicht wünschen.
 
 SPIEGEL: Frau Merkel hat durchaus eine bewegte Biografie 
           vorzuweisen, von der Pfarrerstochter und Physikerin zur 
           Oppositionsführerin in der West-CDU. Imponiert Ihnen das?
 
 Grass: Nein, absolut nicht. Frau Merkel beherrscht die 
           parteiinterne Intrige. Sie kann Leute gegeneinander ausspielen, sie 
           kann ihre Position halten. Notfalls ist sie auch schamlos genug, wie 
           eine Petzliese die eigene Regierung in Washington anzuschwärzen. Als 
           Bush noch gute Umfragewerte hatte, hat sie sich nicht entblödet, den 
           Bundeskanzler im Weißen Haus nicht nur zu kritisieren, sondern sich 
           als diejenige darzustellen, die die wahre Freundin Amerikas ist. Das 
           ist für mich keine Position.
 
 SPIEGEL: Und die Sozialreformen, die sie letztlich wie 
           Schröder machen will, nur ein bisschen zügiger, radikaler, 
           grundsätzlicher? Schätzen Sie die Sozialreformerin Merkel?
 
 Grass: Ich sehe sie nicht. Wenn es ans Eingemachte geht, zum 
           Beispiel bei den Subventionen, ist sofort die Sperre im Bundesrat 
           organisiert.
 
 Glotz: Merkel verhält sich jetzt in der Tat so, wie wir uns 
           verhalten haben, als Kohl noch regierte: Der Bundesrat wird als 
           Oppositionsinstrument benutzt.
 
 SPIEGEL: Herr Lüpertz, fällt von Ihnen ein wohlmeinenderer 
           Blick auf Angela Merkel?
 
 Lüpertz: Ich glaube, dass sie niemals viel erreichen kann, 
           denn sie lebt von der Opposition. Wenn sie denn tatsächlich aus 
           irgendeinem Grund Kanzlerin werden sollte, was ich nicht glauben 
           kann, dann wird sie sehr schnell scheitern. Ihre eigene Partei wird 
           sie fallen lassen.
 
 Glotz: Herr Lüpertz, Sie müssen wir zum 
           Unterbezirksvorsitzenden in der SPD machen. Sie sind noch so 
           optimistisch. Solche Optimisten brauchen wir.
 
 Lüpertz: Ich bin fest davon überzeugt.
 
 Grass: Ich glaube auch, dass wir die Wahl gewinnen können.
 
 SPIEGEL: Für Willy Brandt sind Sie in den Wahlkampf gezogen, 
           dokumentiert im "Tagebuch einer Schnecke". Nun heißt es allerorten, 
           Schröder habe ein Vermittlungsproblem mit der Agenda 2010. Könnten 
           Sie sich vorstellen, dem Kanzler bei der Vermittlung dieser Agenda zu 
           helfen?
 
 Glotz: Ich bin dabei, wo immer ich gebraucht werde.
 
 Grass: Ich bin jetzt 76. Wenn ich in zwei Jahren noch bei 
           Puste bin, was ich hoffe, werde ich wieder in die Bütt steigen, und 
           zwar für Rot-Grün.
 
 SPIEGEL: Und Sie, Herr Lüpertz?
 
 Lüpertz: Ich habe versucht, mich als Künstler immer aus der 
           Politik so weit herauszuhalten, dass ich sie als Beobachter sehe. 
           Solange sie demokratisch ist, habe ich nichts dagegen. Sollte das 
           Land in eine Richtung abrutschen, die mir nicht passt, würde ich zum 
           Kohlhaas werden wollen.
 
 Glotz: Der Kohlhaas endet aber böse.
 
 Lüpertz: Das Leben eines Künstlers endet immer tragisch.
 
 SPIEGEL: Herr Grass, Herr Glotz, Herr Lüpertz, wir danken 
           Ihnen für dieses Gespräch.
 
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