Heimarbeitertarife

In mancher Hinsicht hat auch Solingen (Sozial-)Geschichte geschrieben. Denn in der Stahlwarenindustrie herrschten - wie in vielen anderen Branchen auch - vor 100 und mehr Jahren Verhältnisse, die an "Sklaverei mit bürgerlichem Komfort" erinnern: Die Scheinselbständigkeit der Heimarbeiter war eine totale Abhängigkeit von den Fabrikherren, der unter Konkurrenzdruck erzielbare Lohn oft zu wenig zu Leben, zum Sterben nur selten zu viel. Das Heimarbeitergesetz, das dann vom Reichstag noch vor dem I. Weltkrieg beschlossen und später mehrfach modifiziert wurde, brachte in Solingen die Schaffung von sog. Heimarbeitertarifen mit sich. Im Dritten Reich wurden sie penibel eingehalten (wie auch in anderen Branchen, z. B. bei den Buchdruckern), um die Arbeitskräfte für einen sich anbahnenden Krieg "bei Laune" und in Arbeit zu halten.

 

 

 

Druckerei Walther Stöpfgeshoff, Solingen

Heimarbeiter: Friedrich Saam

Fabrikant: Aug. Merten Ww.
Eichenlaub-Bestecke
Solingen-Gräfrath

 

"Zur Beachtung!
Vettern, Basen sowie Schwiegersöhne und =töchter gelten nicht als Familienangehörige!
Sie sind
Betriebsarbeiter."

"ausgeübte Tätigkeit:
Tischmesserschleifer"

"5 Gebote für Heimarbeit!
1. Macht Euch mit der Tarifordnung vertraut !
2. Unterbietet nicht die tariflichen Mindestentgelte !
3. Zahlt Euren Mitarbeitern die vorgeschriebenen Löhne !
4. Verlangt deutliche Entgelt=Aushänge in den Ausgaberäumen !
5. Nehmt keine Arbeit an, die nicht in das Entgeltbuch eingetragen ist; die Angabe des Stückentgeltes darf nicht fehlen !"
 

 

Die Naturfreunde Pfaffenberg berichten auf einer Seite Ihrer Webs:

"Im Jahre 1925 waren 72 % der Solinger Arbeiter und Angestellte in der Stahlwarenbranche beschäftigt. Zum größten Teil wurden die Stahlwaren in Heimarbeit hergestellt. Ende 1928 arbeiteten 15.832 Heimarbeiter in der Klingenstadt Solingen, von denen über 60 % Stahlwaren anfertigten."

 

 

Die Scheren-Ausmacher waren die Arbeiter. Der Begriff "Ausmacher" klingt seltsam und kommt von "Fertigmachen"; umgangssprachlich wird "ausmachen" zuweilen noch für "nun aber schnell / endlich zu Ende kommen" benutzt.

Im Solinger Platt heisst der Beruf übrigens "Utmaker", was ausgeschrieben an holländisch erinnert und dort "uitmaker" heissen würde.

Pließten ist Polieren, Glätten, Schleifen, Augen sind die Grifflöcher der Scheren.

 

Der Hang zur Feinst-Regulierung entspricht der bergisch-dickschädeligen Rechthaberei:

"Viel- und Tüllscheren.
Mit Haarscherenhalm kosten dieselben Preise wie Haarscheren.
Polnische Viehzeichenscheren dieselben Preise wie Ladenscheren.
Fesselscheren 10 Pfg. mehr wie Ladenscheren.
Pferdescheren mit einem großen Auge kosten Lederscherenpreise."

 

Gestaltung und Schrift deuten auf einen Ursprung um 1912-1915 hin. Dies könnte auch mit einigen anderen (gesetzlichen) Entwicklungen für die Regelung der Heimarbeit übereinstimmen.

 

 

 

Druckerei Walter Stöpfgeshoff, Solingen

Inhaltlich die gleiche Liste (identische Preise), jedoch von einer anderen Druckerei und in anderer Gestaltung (Schrift). Gerade diese Schrift, zur Familie der sog. Grotesk gehörend, lässt Zweifel daran aufkommen, ob es sich um einen Original-Druck aus 1914 handeln kann. Denn die Schrift wurde erst nach dem 1. Weltkrieg in Deutschland eingesetzt.

 

Druckerei Ernst Quast, Foche

Auch unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg wurden die Tarife weitergeführt. Im Prinzip gelten sie heute noch und werden von den Tarifvertragsparteien ausgehandelt.

 

Druckerei C. Hoffmann jr., Solingen;
gedruckt im Januar 1949
Auflage 300

Die DM ist da, die Preise sind noch überschaubar. Zum 1. Mai 52, dem Tag der Arbeit, gab es wieder einmal einen neuen Tarif.

 

Freiheit über alles: nun in der Marktwirtschaft mussten die Druckereien keine "Drucknorm" mehr mitdrucken, deshalb lässt sich nicht ablesen, wer diesen Tarif gedruckt hat. Da viele typografische Details übereinstimmen, wird es jedoch auch C. Hoffmann gewesen sein.