Heimarbeitertarife 3

Selbst den schnöden und drögen Preislisten widmete man wenigstens noch eine einigermaßen "liebliche" Titelseite. Vor allem kamen da die zahlreichen sogenannten Vignetten zum Einsatz, phantasievolle Formen, die keinerlei Sinn hatten und wie die Arabesken einfach nur schnörkeliger Zier waren, in der Jugenstil-Ära aber durchaus die Anmutung kleiner Kuntwerke annehmen konnten.

 

 

Ironie des Schicksals, dass der Tarif genau auf Kriegsbeginn begann (am 2. August begannen die Kampfhandlungen, am 11. 11. 19 wurde der Waffenstillstand unterzeichnet)

 

Diese Preislisten sind leider ohne jede Drucknorm, also keiner Druckerei mehr zuzuordnen

 

 

Ironisch gesagt: dieser Tarif gilt für die Beerenwein- und nicht Moselwein trinkenden Heimarbeiter links des Pilghauser Baches von Montag bis Mittwoch bei schönem Wetter -
so etwa liest sich heute die Definition

Arbeitgeber im oberen Kreise Solingen ... und ... Christlicher Metallarbeiterverband

Will sagen: alle Parteien waren um Verträge bemüht, was aber sicherlich weder das soziale Klima wesentlich erleicherte noch die Kalkulation ...

 

 

 

 

 

Aber nichtsdestoweniger waren die Herrschaften, die die Verhandlungen führten, gebildete Menschen. Einer Preisliste (Foto oben) liegen handschriftliche Notizen über die Preisverhandlung mit den Veränderungen der Normen vor, die in feinster und sorgältigster, ruhiger Art niedergeschrieben wurden. So müssten heute noch Handschriften aussehen, wäre das schön!

20/4.25
verhandelt

...

Seite 11 Feilen bis 9 cm / 3 offen
2 Seiten 12 Pfg. über 9 cm 22 Pfg.

bei der guten Qualität zum vernickeln auf Seite 12 müssen (?)Nagelreiniger und änliche Sachen sehr (?) (?) nicht wie bisher fein gepließt werden

 

 

 

 

Preislisten ganz anderer Art sind diese Kataloge. Sie beschreiben recht anschaulich die Vielfalt, die in den einzelnen Sparten der sog. Klingenindustrie anzutreffen ist. Nach seriösen Schätzungen dürften in Blütezeiten des vorigen Jahrhunderts um die 200.000 verschiedene Artikel eines allumfassenden Gesamtsortiments an Stahlwahren gleichzeitig in Solingen hergestellt und im Angebot gewesen sein. Eine (völlig willkürliche) Auswahl zeigen diese Seiten.

 

 

Man muss es sich einfach einmal vor Augen führen: für jede Sorte musste eine "Erfindung", sprich Grundberechnung und  ggf. Zeichnung gemacht werden, mussten Werkzeuge gefertigt oder Arbeitsgänge eingeübt werden, wurden Kalkulationen angestellt, Verkaufszeichnungen gefertigt und Galvanos oder andere Klischees hergestellt, gab es Erfahrung und Wissen, Qualitätsnormen und Arbeitszeitberechnungen, Preise und Sortierfächer, Verpackungen und Promotion, Bedarf und sortentypische "Schicksalsverläufe". Die Vielfalt ist kaum noch nachzuvollziehen, moderne Unternehmensberater kämen an die Grenze zum Herzinfakt bei dieser Produktvielfalt und das Publikum würde allenfalls staunend, aber uninteressiert zur Kenntnis nehmen, dass es eben so ist.

 

 

Die Inflation beginnt zu traben. 1923 wird sie ihren Höhepunkt erreichen.

 

 
 

Als die Inflation beendet ist, passt man die Preise dem neuen Niveau an.

 

 

 

 

 

Und korrigiert sie, wo notwendig.