Solinger Tageblatt

1963: Auch in der Druckindustrie herrscht noch gute, alte Zeit, nämlich Bleisatz und Buchdruck. Das Solinger Tageblatt ist das Medienzentrum von Solingen und wie eine Zeitung gemacht wird, bleibt seinerzeit den meisten Menschen rätselhaft. Und keiner nahm Anstoß, dass es eben nur die Herren der Schöpfung sind, die so etwas könnten. Bis ... siehe unten. 

 

1960

Das Solinger Tageblatt gibt in einer kleinen, leider nicht mit Impressum versehenen Broschüre einen kleinen Einblick in Geschichte und Wirken.

1660 erschien übrigens in Leipzig die erste Zeitung Deutschlands, schon 150 Jahre später die erste in Solingen.

 

Am 1. Juli 1809 erschien der "Verkündiger", Solingens erste regelmäßige Zeitung, einmal wöchentlich mit einer Auflage von 45 Stück. 1825 betrug die Auflage rund 250.
1834 nannte sich das Blatt in "Solinger Kreis-Intelligenzblatt" um (und hieß so bis 1912).

Heute werden knapp 30.000 Exemplare des ST verkauft, einige tausend der Regionalausgabe der RP, der Solinger Morgenpost.

Redakteure waren seinerzeit eine Mischung aus Künstler, Mogul und preußischer Beamter. Immer von allem ein bisschen, und vor allem immer mit dem Ausdruck im Gesicht, dass die Welt aufhöre zu existieren, wären sie, die Redakteure, nicht zur Rettung angetreten.

 

6 Fotos: Informationsbroschüre Verlag B. Boll, Solingen

Damals war nicht nur die Welt noch in Ordnung, sondern auch alle Rollen richtig verteilt. Während die Herren Heroisches leisteten, waren fleißige Damenhände darum bemüht, das Chaos zu sortieren. Von Email sprach man damals noch nicht ... :-)

 

 

Die Hackordnung setzt sich natürlich auch in der Rotation (diese stand und steht für das ST bei der WZ, Westdeutschen Zeitung in Wuppertal): Oben der Herr Rotationsdrucker, hierarchisch gleich unter dem Bundeskanzler angesiedelt, und unten die sogenannten Fachhilfskräfte. Heute ist auch deren Tätigkeit längst durch Automatismen ersetzt, Versandraumtechnik ist heute computerüberhäuftes HighTech.

 

1974 zur 600-Jahr-Feier der Stadt Solingen

Zeilensatz von der Linotype-Setzmaschine, die Überschriften per Hand "gepinnt", so machte man die bleischweren Zeitungsseiten fertig.

Auch damals war das Männersache. Bis 1963. Da begann auch die Emanzipation in der Setzerei.

Ich hatte das Vergnügen, in einem Eignungstest 1963 beim ST als bester abzuschneiden und die Zusage zu einer Handsetzer-Lehre zu haben. Bis mir Dr. Boll, später unter tragischen Umständen ermordet, mitteilte, er hätte sich anders entschieden und wolle erstmals ein Mädchen einstellen.
Welch ein Glück für mich. Daraufhin habe ich eine Setzer-Lehrstelle angetreten, die heute unter Strafe stehen würde: wegen nachweislicher Sklaverei, gemessen am Weichei-Index. Aber gelernt habe ich irrsinnig viel und vor allem hat mich die Vielfalt bis heute am Metier des Druckens fasziniert. Und so bin ich, Tageblatt-Absage sei Dank, Chefredakteur des größten deutschsprachigen Marktführers und Management-Zeitschrift der Printindustrie.

 

1961, Die Obersecunda der Schwertstraße besucht die Setzerei des Solinger Tageblatts. Maschinensetzer Herbert Mehlis begrüßt Oberstudiendirektor Dr. Mombauer. Der Herr mit gesenktem Kopf in der Bildmitte ist Oberstudienrat Baumeister.

 

"Prosit Neujahr
... und alles gute für 1966, mit herzlichem Dank für die uns übermittelten Grüße !
Edith und Bernhard,
Bernhard jr. und Gisela Boll
31. Dezember 1965"

 

Glückwunschkarte der Verlegerfamilie Boll zum Jahreswechsel 65/66

 

Dr. Bernhard Boll (sen.) wurde einige Zeit später in seinem Landhaus an der Burger Straße von einem Einbrecher ermordet. Nach dem Mörder wurde in einer der ersten Sendungen von Eduard Zimmermanns "XY Ungelöst" bundesweit gefahndet. Der Täter wurde später gefasst. Der gewaltsame Tod von Dr. Boll hat seinerzeit die Klingenstadt tief erschüttert.

 

Wie das Solinger Tageblatt seinerzeit gelesen wurde, zeigt sich in dieser historischen Aufnahme: nämlich in Ruhe.

 

Das ST war eine der letzten Nachmittagszeitungen in Deutschland. Leider wurde irgendwann, Leserschwund lässt grüßen, auf Lieferung "zum Frühstück" umgestellt. Mit der Folge, dass ganz Solingen am Nachmittag nicht mehr weiß, was es tun soll.

Foto: privat

2003: Ob nun der Intellektuelle Faust versucht wird, für die Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit seine Seele zu verkaufen, der Gewissenlose für einen Schnaps seine Großmutter an den Teufel oder ein Zeitungsverlag seine Titelseite an die Werbung: stets ist der Konflikt letztendlich nicht lösbar. Eine Zeitung lebt von der Werbung und so ist es legitim, ihr entgegenzukommen. Ob man als Verlag seine ureigene Domain, nämlich die Titelseite verkaufen sollte, sei hier weiter nicht erörtert. Aber einen besonderen bitteren Beigeschmack bekommt das Ganze zu Zeiten eines aktiven Krieges (wofür weder das ST noch OBI können). Nur eben: hier lädt man zum Jubeln ein, woanders ist die Lage zum Verzweifeln. Life live. 

 

 

Solinger Tageblatt am 27. März 2003

oben: "Außentitel" an diesem Tag
innen: "Innentitel"

Die vierseitigen Beilage von Obi war - entgegen sonstigen Gewohnheiten des ST und generell von Tageszeitungen - als erste Lage gewissermaßen außen um die eigentliche Zeitung gelegt. Und darüber hinaus war auf der ersten Seite das redaktionelle Original im oberen Drittel unterlegt. Was bei solch brisanten Themen zu einer peinlichen Situation führte: "USA stoppen OBI" oder den zornigen und verzweifelten Bürgern Bagdas lächelt der Biber froh zu: "Feiern Sie mit".

 

 

 

 

 

Am 6. Mai 2003 gab es einen zweiten Anlauf. Seit dem ist die Titelseite wieder ganz verlags-eigen.

Wieso regen wir uns heute über CNN, embedded journalists, und Live-Kriegsberichterstattung auf? Das Solinger Tageblatt, noch mit dem Zusatz der Intelligenz versehen, war zu Beginn des I. Weltkrieges stolz darauf, die ausführlichste Nachrichtenlage bieten zu können. Wettlauf der Medien, das ist kein Phänomen der großen weiten Welt und der Jetztzeit. Dieser Wettlauf war immer und auch im "kleinen Solingen". Wenn nicht da erst recht.


 

 

aus der Schriftenreihe des Bergischen Geschichtsvereins, 1984
"Solingen im 1. Weltkrieg"

Geradezu visionär ist dieser Artikel aus dem Jahr 1952:

"Europa reicht vom Atlantik bis an das Schwarze Meer ...
... Keine Regelung mit der Sowjetunion ohne Unabhängigkeit und Freiheit für die Völker hinter dem eisernen Vorhang und ohne ihre Rückkehr zu Europa."

 

 

 

Sind Zeitungen teuer? Nein:
Bezugspreis monatlich 3,10 DM, zuzüglich 0,50 DM Botenlohn; Einzelpreis 15 Pfg.

 

Politischer Mord war schon immer Gestalter der Politik. Ob "auch Du, mein Sohn Brutus", Mörder des Cesaren, ob Graf Engelbert, Kennedy oder die apokalyptische Dimension des al-Kaida-Terrors: Macht macht süchtig, wer Einfluss haben will, muss sich der Feinde, Widersacher und der Überlegenen entledigen. Die Zeitung verkündet und appelliert. Und ist - nein: war früher - immer im Zwiespalt zwischen Bericht und Beeinflussung. Das Solinger Tageblatt verfolgt bis heute die Devise, durch Themen und Vielfalt objektiv, aber in den Artikeln pointiert moralisch zu sein. Was offensichtlich den Geschmack "des Volkes" trifft, denn die Zeitung erfreut sich ungebrochener Beliebtheit, auch wenn, wegen erwiesener Leseschwäche jüngerer Leute, die Auflage sinkt.

Was den Verleger, Bernhard Boll, aber nicht von einem Lob über seine Kollegen von der elektronischen Front abhält:

"Kennedys Tod hatte zur Folge, daß beim ZDF das gesamte Programm durch aktuelle Nachrichten und sachliche Hintergrund-Erläuterungen ersetzt wurde. Trotz des tief erschütternden Anlasses sei hier eine Anerkennung für das ZDF ausgesprochen. Seine Leistung war in diesem Falle technisch hervorragend, weil der Kontakt mit Amerika alle Möglichkeiten ausschöpfte, die solche Stunden internnationaler Erregung zuläßt."

 

1963, 23. November, neben Kennedy bewegt noch das Deutschland (Original-Headlines aus dem ST vom 23.11.63):

"Gewerkschaft: Protest gegen Preiserhöhungen"
"Lübke: Die Wohnungsnot hat bald ein Ende"
"Konzil in Rom verabschiedete die Liturgie-Reform"
"Rundfunk mißbraucht seine Privilegien"
"Zu wenig Geld für Jugendtheater?"
"Fünf Monate Gefängnis für Mietwucher"
"15jährige schlug mit Weinflasche zu"
"Toter lag in Wohnwagen"
"Spitzenböen mit 130 km/st über die Zugspitze"
"Bergisches Geflügel gackert kräftig in Ohligs"
"Die Kriegsopfer müssen immer noch warten"
"Alterserscheinungen in der Krankenversicherung"
"Raffinierter Bursche bestahl Busfahrer"
"Wupperhofer verreisen"
"Zwei Burschen kamen von der schiefen Bahn nicht ab"

Hat sich die Welt verändert. Eindeutig nein. Ist die Welt heute schlechter als früher. Eindeutig nein. Ist sie anders, eindeutig nein. Irren wir uns nur in unserer aktuellen Einschätzung und Erinnerung. Eindeutig ja.
 

Walter Scheel, Außenminister aus Solingen, im Kreis seiner Freunde: links Kennedy, daneben der Sauerländer Heinrich Lübke (ein Humorist: "[Bundespräsident] Heuss kommt vom Humanismus, Lübke vom Humus") und Konrad Adenauer, der Alte, der auf die Frage, ob er die größten Politiker der Welt kenne, geantwortet haben soll: "Ja, ich kenne die." Das staunt John F. Kennedy.

 

 

Das Solinger Tageblatt gibt jedes Jahr traditionell einen kleinen Blatt-Kalender heraus. Wie man sieht, hat es Tradition.

Eine nette Petitesse in den oberen Vignetten des Kalenders. Während rechts die Lewerfrau die Waren auf dem Kopf vom Schleifer und Schmied, also den Kotten und Werkstätten, zum Fabrikanten ausliefert oder Rohwaren holt, ist es rechts der mit dem "Husiedenen", dem hohen seidenen Hut und dem typischen Bauern- und Schleiferkittel gewandete Handwerker selbst, der "en Gedrag" schleppt.



 

 

 

1945

Im 2. Weltkrieg war auch die Lokalpresse "gleichgeschaltet". Es gab keine freie Meinung und keine unabhängigen Redaktionen. So erklärt sich, dass spaltenlang die "Erfolge" der deutschen Armee aufgelistet werden, die in Wirklichkeit nur noch gegen ihr baldiges Ende kämpfte. Ob die Waffen-SS Panzer abgeschossen oder man eine Frontlinie für einen Tag gehalten hatte: alles wurde peinlich penibel als Jubelmeldung platziert.

Möglicherweise bestand die Zeitung an diesem Tag nur aus einem einzigen, zweiseitig bedruckten Blatt.

Die Lokalnachrichten reduzierten sich auf wenige Meldungen und diese noch sehr seltsamer formuliert:

Zwei Lastkraftwagen stießen in Gräfrath Wuppertaler Straße, zusammen. Zwei Insassen wurden erheblich verletzt. Ein Lastkraftwagen wurde so stark beschädigt, dass er abgeschleppte werden musste.

 

Die erkannte Person, die in der Metzgerei Schick die gesamten Lebensmittel- und Kleiderkarten auf den Namen "Caroline Scheren" lautend, an sich genommen hat, wird gebeten, dieselben bei Scheren, Ohligs, Meteorstraße 8, abzugeben, andernfalls Anzeige erstattet wird.

Heinrich Gehlen, Rohproduktenhandlung, Solingen, Entenpfuhl 11. Ankauf von Altmaterial, Knochen gegen Seifenscheine.

Leichter Handwagen oder Handkarre zu kaufen gesucht. Städt. Krankenanstalten, Haus 6, Zimmer 23

Suche Stopf- und Flickarbeit in oder außer dem Hause. Angebote an die Geschäftsstelle dieser Zeitung in Solingen.

Älteres alleinstehendes Fräulein sucht Unterkunft. Hausarbeit wird übernommen. Angebote unter W 992, Geschäftsst. Wald

 

Dennoch bleibt Platz für viele Meldungen und Inserate, die heute teils kurios erscheinen und auf erschreckende Weise die seinerzeitige Not dokumentieren:

Biete 2 Paar weiße Stutzen für 3jährige. Suche weiße Stutzen für 6jährigen. Zubicki, Hasselstraße 15.

Biete Knaben-Schnürschuhe. Suche Damenfahrrad. Wertausgleich. Becker, Altenhoferstr. 14 (nach 18 Uhr)

Biete 1 PS-Motor. Suche Radio. Dammstraße 4, Parterre

Biete weißes Metallkinderbett. Suche D.-Schuhe Gr. 38. Solingen-Wald, Strauch 8

 

Einen amüsanten wie interessanten Ausflug in die vielfältigen historischen Ereignisse Solingens und der Welt leistete sich der Bergische Geschichtsverein, Abteilung Solingen mit der  Herausgabe eines fiktiven "Anzeiger für Stadt und Ambt Solingen", in dem Nachrichten der letzten mehreren hundert Jahre im Stil der heutigen Tageszeitung wiedergegeben waren.
Da erfuhr man vom Tod Kaiser Barbarossas ebenso wie von der Lage des Klosters in Gräfrath, las Berichte über Bauernkriege und die Goldene Bulle Karl IV., lernte den Reichtum der Fuggers kennen oder schauderte über Hexenverbrennungen. Wald, so liest man, erhielt einen eigenen Friedhof und die ersten Mennoniten machen sich in Amerika ansässig.

 

Druck und Verlag B. Boll / Solinger Tageblatt
Herausgabe am 30. August 1985

Richtiger Handsatz. Mit der Typografie der damaligen Zeit.

 

Diese Geburtsanzeige wurde von Herbert Mehlis 1919 gesetzt, Maschinensetzer beim Solinger Tageblatt und mein Onkel. Das Sonntagsmädchen ist meine Mutter.

Die hehre Wahrheit und die Hure Werbung

Eine Zeitung lebt, überwiegend, von der Werbung, weniger von den Abonnenten. Und wenn man mehr Werbung haben will, muss man, wie es im verlegerdeutsch heisst, ein entsprechendes redaktionelles Umfeld schaffen. Zum Beispiel durch einen thematischen Sonderteil; irgendein Anlass reicht aus, um Inserenten Laune aufs Inserieren zu machen. Das Weihnachtsgeschäft ist allemale dafür gut. Nun sind aber Solinger Einzelhändler potentiell kniepig, geizig. Und Geld für eine Weihnachtsbeleuchtung haben sie schon lange nicht mehr, ihr Konto gibt es nicht mehr her. Und wer bislang zahlte, ärgerte sich über die, die nichts zahlten und von der gesponserten Beleuchtung anderer profitierten. Also lässt man es lieber sein. Was zu einer kuriosen Situation führt: Die Redaktion beklagt sich zu recht und die Tatsachen würdigend über eine unweihnachtliche Innenstadt. Und der Werbeteil jubelt über Licht-Solingen. Und macht sich damit selbst lächerlich, weil unglaubwürdig.

 


 

ST vom 2. 12. 2004
Lokalteil + Sonderwerbeteil

Leider viel zu seiten, aber wenn, dann mit einer hohen Qualität an Authenzität und Unterhaltungswert, hat das ST Rückblicke in die Geschichte Solingens herausgegeben. Mit ausgezeichneten Beiträgen der Fachleute. Diese Art, Geschichte aufzubereiten, ist wesentlich wertvoller als das Zurückziehen in den Juliusturm. Doch leider, wer hat dafür schon noch Geld und will es finanzieren?

Ausgabe 27. Nov. 1990

 

Als der alte Herr Siebel noch Verleger und Redakteur zugleich war, und Drucker auch noch.

 

Und das ist draus geworden.

 

 

Verlag B. Boll, Solingen, Mummstraße