Atmo: S-Bahngeräusche; redende Passagiere
Wer mit der S-Bahn von Solingen nach Remscheid fährt, befindet sich mit
einem Mal auf ihr: der Müngstener Brücke. – Sie ist Deutschlands höchstes
Eisenbahn-Viadukt und eines der Wahrzeichen des Bergischen Landes. – In
schwindelnder Höhe überspannt die Müngstener Brücke das tief
eingeschnittene Tal der Wupper und bietet den Reisenden für kurze Zeit
eine grandiose Aussicht auf waldige Hügel. Aber so unvermittelt sie
auftauchte, so schnell hat man sie auch schon wieder überquert.
Ihre wahre Schönheit kann man nur von unten, vom Tal aus ermessen.
Atmo: Wupper, Wassergeräusch
107 Meter ragt sie in die Höhe, unter ihr plätschert ruhig die Wupper. –
Ein imposantes Stahlgerüst, das trotz seiner 5.000 Tonnen filigran wirkt.
Rund 930.000 Nieten, einer soll aus purem Gold sein, halten die
Konstruktion zusammen – und das seit mehr als 100 Jahren. Seitdem kommen
jährlich wohl mehrere tausend Ausflügler nach Solingen und bestaunen das
gewaltige Bauwerk. So auch dieser Tourist:
O-Ton: "Für mich persönlich ist das eine technische Meisterleistung, zu
der Zeit, wo es eigentlich noch keinen Rechner gab, und jedes Bauteil an
sich per Hand gerechnet werden musste, also es ist eine phantastische
Ingenieurleistung."
Sie ist eine Brücke der Superlativen. Aber leider auch eine mit einem
traurigen Rekord. Denn immer wieder springen Menschen von ihr und setzen
damit ihrem Leben ein Ende. Der erste Selbstmörder soll übrigens der
Erbauer Anton von Rieppel selbst gewesen sein. Aus Angst, die Brücke
könnte am Tag der Einweihung nicht halten, habe er sich in die Tiefe
gestürzt. Doch das ist nur eine Legende – die anderen Toten hingegen
bittere Realität.
Atmo: S-Bahn fährt über die Müngstener-Brücke
Elsa Böhm, die gemeinsam mit ihrem Mann seit mehreren Jahrzehnten einen
Kiosk unmittelbar unter der Brücke betreibt, kann das aus leidvoller
Erfahrung bestätigen. Wie viel Leichen sie schon gesehen hat, daran kann
sie sich nicht mehr erinnern. Zu viele, betont sie:
O-Ton: "Man wird es gewahr durch die Feuerwehr, oder aber man findet
morgens früh, wenn wir hier eröffnen diese Menschen, oder Wanderer kommen
uns entgegen und sagen, Elsa ruf mal die Polizei an, es liegt jemand, oder
es hängt jemand, oder in der Wupper sind auch schon mal ab und zu welche
am Schwimmen."
Bilder von Leichen – durch den heftigen Aufprall entstellt –, die sie ihr
Lebtag nicht mehr vergessen kann. Schicksale, die sich in ihr Gedächtnis
einbrennen, trotz des oft namenlosen Leids. Elsa Böhm:
O-Ton: "Ein junges Pärchen, beide achtzehn Jahre, haben sich das Leben
gemeinsam genommen, die Eltern wollten die Verbindung nicht und beide
hatten das Abitur nicht bestanden, wie gesagt, das suchende, findende
Gespräch; hatten keinen Kontakt zu ihren Eltern, also wussten eben keinen
Ausweg, weil sie alles vermasselt hatten; und trotzdem sind sie beide in
Liebe aus dem Leben geschieden; oder ne junge Frau, ne bildhübsche junge
Frau und ich geh morgens Toiletten sauber machen, liegt ne junge Frau mit
‘nem Rucksack; die hatte Steine gesammelt; sie sammelte Steine; ich hab es
schwer, ich sammle Steine."
Die unzähligen Selbstmorde und Selbstmordversuche haben die Müngstener
Brücke zu einem Mythos werden lassen. Aber wie erklärt sich die
Suizid-Häufung? Wieso wählen Menschen einen derart öffentlichen Raum, um
aus dem Leben zu gehen? Dazu Dr. Martin Obladen, Arzt am psychiatrischen
Krankenhaus "Tannenhof" in Remscheid:
O-Ton: "Die Brücke ist einfach regional als Ort bekannt, an dem schon
viele es versucht haben oder in den Tod gegangen sind und von daher hat
sie vielleicht auch eine leidige Anziehungskraft für Menschen, die
versuchen wollen, sich ums Leben zu bringen. Man muss natürlich auch
sagen, die Müngstener Brücke ist sehr groß, ist sehr hoch, ist etwas
Besonderes und ist aufsehenerregend. Und manche, gerade wenn sie in einer
Ambivalenzphase sind, wenn sie noch nicht entschieden sind, ob sie ihrem
Leben wirklich ein Ende setzen wollen, dann ist es eine letzte
Möglichkeit, Aufsehen zu erregen und vielleicht doch noch Hilfe
anzufordern, oder Hilfe in Anspruch zu nehmen. - Im Gegenteil muss man
natürlich sagen, dass das eigene Erleben von Schwäche, von Kleinheit, von
Selbstunwert vielleicht versucht wird auch innerlich auszugleichen mit
etwas Großem, mit etwas, was letztlich wieder versucht, ... das Heft in
die Hand zu nehmen. Und das ist für viele natürlich eine Situation, dass
sie sagen: so klein ich mich fühle, das versuche noch selbst zu machen."
Immer wieder hat der Mediziner Kontakt zu Menschen, die von der Müngstener
Brücke springen wollten, es sich dann aber in letzter Minute anders
überlegten. Oft aus Angst vor dem Endgültigen. Die Chance ihnen dauerhaft
zu helfen, schätzt Dr. Martin Obladen gar nicht mal so schlecht ein:
O-Ton: "Viele Patienten die auf der Müngstener Brücke gestanden haben,
können ganz gut von der Ambivalenz berichten, ob sie es nun tun sollen
oder nicht und letztlich ist es für uns natürlich wichtig, die
Persönlichkeitsanteile oder Mechanismen zu fördern, die das Überleben
sichergestellt haben, den Überlebenswillen wieder zu stärken und gemeinsam
nach Auswegen nach Hilfen zu suchen, wie es hinterher wieder weiter gehen
kann. ... Und diese Angst können wir, da gibt es bestimmte Möglichkeiten
auch im psychotherapeutischen Gespräch, dass wir diese Angst nutzen und
positiv umdeuten können und die Energien für positive Veränderungen nutzen
können."
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