Müngstener Brücke 5

Wird in der Öffentlichkeit gerne totgeschwiegen: die dunkle Seite der Brücke. Die Solinger Tageszeitungen halten sich an einen Kodex, nur in Ausnahmefällen über Selbstmorde oder Selbstmordversuche zu berichten. Unter anderem dann, wenn wieder einmal die Brücke stundenlang für den Zugverkehr gesperrt ist, weil man versucht, eine Person vor dem letalen Sprung zu retten - sie dazu zu überreden, was zuweilen gelingt.

 

Nachfolgender Text aus einer WDR-Webseite

Ausgewählte Hörfunk-Berichte aus dem Studio Wuppertal
Gesendet am Samstag, 21. Juli 2001, in "3.PM" auf WDR 3
Die Müngstener Brücke: 107 Meter zwischen Leben und Tod
Von Stefan Wieland

 

 

 

 

Atmo: S-Bahngeräusche; redende Passagiere

Wer mit der S-Bahn von Solingen nach Remscheid fährt, befindet sich mit einem Mal auf ihr: der Müngstener Brücke. – Sie ist Deutschlands höchstes Eisenbahn-Viadukt und eines der Wahrzeichen des Bergischen Landes. – In schwindelnder Höhe überspannt die Müngstener Brücke das tief eingeschnittene Tal der Wupper und bietet den Reisenden für kurze Zeit eine grandiose Aussicht auf waldige Hügel. Aber so unvermittelt sie auftauchte, so schnell hat man sie auch schon wieder überquert.

Ihre wahre Schönheit kann man nur von unten, vom Tal aus ermessen.

Atmo: Wupper, Wassergeräusch

107 Meter ragt sie in die Höhe, unter ihr plätschert ruhig die Wupper. – Ein imposantes Stahlgerüst, das trotz seiner 5.000 Tonnen filigran wirkt. Rund 930.000 Nieten, einer soll aus purem Gold sein, halten die Konstruktion zusammen – und das seit mehr als 100 Jahren. Seitdem kommen jährlich wohl mehrere tausend Ausflügler nach Solingen und bestaunen das gewaltige Bauwerk. So auch dieser Tourist:

O-Ton: "Für mich persönlich ist das eine technische Meisterleistung, zu der Zeit, wo es eigentlich noch keinen Rechner gab, und jedes Bauteil an sich per Hand gerechnet werden musste, also es ist eine phantastische Ingenieurleistung."

Sie ist eine Brücke der Superlativen. Aber leider auch eine mit einem traurigen Rekord. Denn immer wieder springen Menschen von ihr und setzen damit ihrem Leben ein Ende. Der erste Selbstmörder soll übrigens der Erbauer Anton von Rieppel selbst gewesen sein. Aus Angst, die Brücke könnte am Tag der Einweihung nicht halten, habe er sich in die Tiefe gestürzt. Doch das ist nur eine Legende – die anderen Toten hingegen bittere Realität.

Atmo: S-Bahn fährt über die Müngstener-Brücke

Elsa Böhm, die gemeinsam mit ihrem Mann seit mehreren Jahrzehnten einen Kiosk unmittelbar unter der Brücke betreibt, kann das aus leidvoller Erfahrung bestätigen. Wie viel Leichen sie schon gesehen hat, daran kann sie sich nicht mehr erinnern. Zu viele, betont sie:

O-Ton: "Man wird es gewahr durch die Feuerwehr, oder aber man findet morgens früh, wenn wir hier eröffnen diese Menschen, oder Wanderer kommen uns entgegen und sagen, Elsa ruf mal die Polizei an, es liegt jemand, oder es hängt jemand, oder in der Wupper sind auch schon mal ab und zu welche am Schwimmen."

Bilder von Leichen – durch den heftigen Aufprall entstellt –, die sie ihr Lebtag nicht mehr vergessen kann. Schicksale, die sich in ihr Gedächtnis einbrennen, trotz des oft namenlosen Leids. Elsa Böhm:

O-Ton: "Ein junges Pärchen, beide achtzehn Jahre, haben sich das Leben gemeinsam genommen, die Eltern wollten die Verbindung nicht und beide hatten das Abitur nicht bestanden, wie gesagt, das suchende, findende Gespräch; hatten keinen Kontakt zu ihren Eltern, also wussten eben keinen Ausweg, weil sie alles vermasselt hatten; und trotzdem sind sie beide in Liebe aus dem Leben geschieden; oder ne junge Frau, ne bildhübsche junge Frau und ich geh morgens Toiletten sauber machen, liegt ne junge Frau mit ‘nem Rucksack; die hatte Steine gesammelt; sie sammelte Steine; ich hab es schwer, ich sammle Steine."

Die unzähligen Selbstmorde und Selbstmordversuche haben die Müngstener Brücke zu einem Mythos werden lassen. Aber wie erklärt sich die Suizid-Häufung? Wieso wählen Menschen einen derart öffentlichen Raum, um aus dem Leben zu gehen? Dazu Dr. Martin Obladen, Arzt am psychiatrischen Krankenhaus "Tannenhof" in Remscheid:

O-Ton: "Die Brücke ist einfach regional als Ort bekannt, an dem schon viele es versucht haben oder in den Tod gegangen sind und von daher hat sie vielleicht auch eine leidige Anziehungskraft für Menschen, die versuchen wollen, sich ums Leben zu bringen. Man muss natürlich auch sagen, die Müngstener Brücke ist sehr groß, ist sehr hoch, ist etwas Besonderes und ist aufsehenerregend. Und manche, gerade wenn sie in einer Ambivalenzphase sind, wenn sie noch nicht entschieden sind, ob sie ihrem Leben wirklich ein Ende setzen wollen, dann ist es eine letzte Möglichkeit, Aufsehen zu erregen und vielleicht doch noch Hilfe anzufordern, oder Hilfe in Anspruch zu nehmen. - Im Gegenteil muss man natürlich sagen, dass das eigene Erleben von Schwäche, von Kleinheit, von Selbstunwert vielleicht versucht wird auch innerlich auszugleichen mit etwas Großem, mit etwas, was letztlich wieder versucht, ... das Heft in die Hand zu nehmen. Und das ist für viele natürlich eine Situation, dass sie sagen: so klein ich mich fühle, das versuche noch selbst zu machen."

Immer wieder hat der Mediziner Kontakt zu Menschen, die von der Müngstener Brücke springen wollten, es sich dann aber in letzter Minute anders überlegten. Oft aus Angst vor dem Endgültigen. Die Chance ihnen dauerhaft zu helfen, schätzt Dr. Martin Obladen gar nicht mal so schlecht ein:

O-Ton: "Viele Patienten die auf der Müngstener Brücke gestanden haben, können ganz gut von der Ambivalenz berichten, ob sie es nun tun sollen oder nicht und letztlich ist es für uns natürlich wichtig, die Persönlichkeitsanteile oder Mechanismen zu fördern, die das Überleben sichergestellt haben, den Überlebenswillen wieder zu stärken und gemeinsam nach Auswegen nach Hilfen zu suchen, wie es hinterher wieder weiter gehen kann. ... Und diese Angst können wir, da gibt es bestimmte Möglichkeiten auch im psychotherapeutischen Gespräch, dass wir diese Angst nutzen und positiv umdeuten können und die Energien für positive Veränderungen nutzen können."

Atmo: Wupper, Wassergeräusch

 

Wo und wie sich Wirklichkeit mit dem Fiktiven mischt.

Reichlich Bergisch Land für Krimi-Freunde. Da bricht selbst Engelbert eine Lanze für die Autoren, wie das Rückseiten-Foto suggeriert.

Hermann-Josef Emons Verlag, 1995
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
Druck und Bindung: Clauen & Bosse, Leck
ISBN 3-924491-60-7

 

Trotz der negativen Aspekte über die Müngstener Brücke überwiegt der Stolz über sie, die Freude daran und die Symbolkraft, die stets mit Faszination einhergeht. Im Großen wie im Kleinen.

Foto: www.bierwagen.de

 

Zwei schöne Beispiele, wie die Müngstener Brücke mit viel Phantasie in eine märchenhaft phantasierte Ideallandschaft eingefügt wurde.

Sonderpostkarte zum 80jährigen Geburtstag der Brücke 1977

Werbeposter der Stadt Solingen, um 1982