Städtevereinigung 1929

Vernunftehe. Ein anderer Ausdruck passt nicht zur Vermählung der fünf bis dato selbständigen Städte unter dem Zwang einer preußischen Verwaltungsreform. Es war mehr als logisch, diese kleinen Gemeinden zusammenzulegen. Was aber nicht heißt, dass daraus wirklich eine Großstadt geworden ist, auch wenn die Gesamteinwohnerzahl von rund 160.000 Menschen dies heute andeuten könnte. Solingen und seine Stadtteile. Eine Soap in ungezählten Folgen.

 

"Es empfiehlt sich, den Stadtkreis Solingen und die vier Städte Gräfrath, Wald, Höhscheid und Ohligs zu vereinigen, und zwar alsbald, ohne Beschreitung einer Zwischenlösung, weil die stadtwirtschaftliche Entwickelung dieses einheitlichen Wirtschaftsgebietes bereits so weit fortgeschritten ist, daß eine Zersplitterung in verschiedene Verwaltungen unrationell ist und bei den gleichlaufenden Interessen dieser fünf Gemeinden sich die großen gemeinsamen Aufgaben der Stadtwirtschaft nur unter einheitlicher, zielbewußter Leitung und unter Zusammenfassung der Finanzkräfte lösen lassen."

 

 

"Seit dreißig Jahren sind Bestrebungen im Gange, die wirtschaftliche und siedlungstechnische Gemeinschaft des oberen Kreises Solingen auch zu einer verwaltungstechnsichen Einheit zu gestalten. ... Kurz vor der Entscheidung sprang jedesmal Ohligs aus den Verhandlungen heraus und brachte die endgültige Vereinigung so zum Scheitern. ... Die Städte Höhscheid und Gräfrath waren und sind heute noch einverstanden, sich mit Solingen zu vereinen, Wald bedingt."

Da ham's wa's doch: die Ohligser!

 

Druck Fredebeul & Koenen, Essen

Einwohnerzahl (in Tausend)
    1900 1925
A Stadtkern 27 30
B übrige Gebiete 18 23
Solingen   45 53
A Stadtkern west 6 8
B Stadtkern ost 3 4
C Merscheid 3 6
D Weyer 4 6
E übriges 4 6

Ohligs

  20 30
A Stadtkern 8 10
B Schlagbaum 6 11
C übriges 5 7

Wald

  19 28
A Stadtkern 2 3
B Zentral 2 2
C Grenzbez. 1 3
D übriges 3 3

Gräfrath

  8 11
A Stadtkern 6 11
B übriges 8 5

Höhscheid

  14 19
SUMME   106 141

Je 50 Einwohner 1 Punkt
schwarz = 1900
rot = 1925

 

Immer wieder wird zur damaligen - wie zur heutigen - Zeit angeführt, dass die topografische Lage von Solingen ein Hindernis in der flächigen Entwicklung sei. In der Tat ist Solingen eine Berg- und Talfahrt. Auswärtige Autofahrer berichten regelmäßig, dass sie völlig verwirrt sind, wo es langgeht. Und die Höhenkurve kann, Sinn für Symbolik vorausgesetzt, durchaus für die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Stadt stehen. Es gibt Hochs und Tiefs, aber im Grunde genommen bleibt alles gleich.

 

 

 

 

 

Den Höhenunterschied merkt man vor allem im Winter, besser gesagt, man sieht ihn. Mit Regelmäßigkeit bildet das Gebiet um Gönrath (Stadtwerke-Verwaltung) die "Schneegrenze". Während in Solingen "oben auf dem Berg" die Straßen glatt sind, weil der Schnee liegen bleibt, regnet es in Merscheid und Ohligs bloß. Warum dies so ist, können Meteorologen gut erklären: die von Westen heranrauschenden Wolken sind in diesem Gebiet etwa 100 m gehoben - exakt soviel, dass der Schnee, der hier meist um die Null-Grad-Grenze fällt, in den tieferen Gebieten wieder in der Luft schmilzt.

 

 

Ob es traurig oder beruhigend ist, sollte jeder selbst entscheiden, in jedem Falle ist es charakterisierend: Seit fast 100 Jahren sind keine neuen Hauptverkehrsstraßen hinzugekommen. Außer dem Torso der Viehbachtalstraße, Deutschlands kuriosester Stadtautobahn, läuft der Verkehr noch so wie zur Gründerzeit der Großstadt Solingen. Nämlich gehemmt. Schuld daran, man ahnt es, sind natürlich nicht die Lokalpolitiker. Sondern die topografische Lage (ob es die topografische Senke in den Köpfen der Politiker ist, wurde oft diskutiert, nie bewiesen). Interessant: nach Wuppertal und Remscheid führen je 2 Straßen. Kein Wunder, dass die 3 bergischen Städte keine Einheit bilden. Sie sind durch die Wupper auf der Landkarte und die Sprachgrenze im Kopf voneinander getrennt.

 

Charakteristika

Geschichtszahlen:



 

Wenn sich fünf Charaktere zusammentun, kann dies ein wirklich gelungenes Quintett geben? Vielleicht in der Musik, aber auch in der Politik, dem Gesellschaftsleben, der Wirtschaft? Zumal es ja inzwischen ein Septett ist; vergessen wird immer, dass Solingen Ende des 19. Jahrhunderts Dorp hinzubekam und inzwischen Burg, ehemals zu Wermelskirchen gehörend, Solinger Stadtteil ist. Die sieben in völlig subjektiver Charakterisierung.

 

Solingen

Eindeutig die "Nicht-Stadt". Obwohl Solingen eine Altsadt hatte, die zumindestens eine optische Geschlossenheit entwickelt hat und die heute, nach dem Wiederaufbau, allenfalls Innenstadt heißt, dieses Solingen hat keine Stadt-Identität. Denn zu Solingen gehört, beispielsweise, Kohlfurth - weit weg. Der Unnersberg - gerade, dass er von einer Buslinie tangiert wird. Hästen, das sich nach wie vor wegduckt Richtung Wupperberge. All diese - und noch viel mehr - sind Hofschaften geblieben, deren Bewohner "in die Stadt fahren", die sich aber keineswegs als Solinger im Sinne der Kernstadt begreifen. Solinger als mentale Zugehörigkeit, das will man sich gefallen lassen. Aber mehr, bitte schön, auch nicht. Ein Kreuzberger ist kein Berliner, Mülheim auf der scheel Sick von Köln freut sich über den Fluss dazwischen und Balkhausen, das ist sich selbst genug.

 

Dorp

Dorp war eigentlich nie eine Stadt, auch kein Dorf, wie der Name es glauben macht. Dorp, das war ein Gebiet vieler Hofschaften, die so unterschiedlich waren, dass es doch schon wieder einen Kosmos für sich bildete. Die abgelegenen Höfe und Weiler, etliche Fabriken, wichtige Alleen. Aber, das ist das schöne, von der Krahenhöhe und der Dorper Kirche konnte man immer auf Solingen herabblicken. Das half, um sich verbunden, aber unabhängig zu fühlen. Bis es 1889 mit der Selbständigkeit ein Ende nehmen musste.

 

Gräfrath

Gräfrather kann man nicht werden denn durch Geburt. Das lassen einen die geborenen Gräfrather spüren. Zwischen Anschein von Inzucht und konzilianter Gastfreundschaft schillern alle Facetten einer Stadt, die schon lange von Gästen lebt und doch so gerne für sich ist. Stolz auf sich selbst, die Bauten, die Historie, das zweifelsohne schöne Stadtbild an den wenigen noch verbliebenen Postkarten-Szenerien. Mit dem wichtigen Klingenmuesum, dem potthässlich-kitischigen, aber dominanten Rathaus, dem weiten Kranz der Felder und Wupperberge, dem wichtigen Autobahnzubringer und der einmaligen Süßwarenfachschule. Und vielen Firmen, die den Mittelstand repräsentieren oder in aller Munde sind, früher Hillers, heute Haribo zum Beispiel. Gräfrath ist nicht nur die Krönung Solingens, es hält sich auch dafür.

 

Ohligs

Ganz ohne Frage, in einer Soap-Opera würde Ohligs die Neureichen geben. Einst ein elendes Kaff, unbedeutend, zu Merscheid gehörend, wurde es nur durch den topografischen Zufall, dass sich eine Eisenbahn zwischen Opladen und Elberfeld am besten und billigsten über Ohligser Gebiet bauen ließ, bedeutend. Übernahm, Eisenbahnen waren damals der  Wirtschaftsmotor schlechthin, von Merscheid die Führung und die Dominanz im Städtenamen, zierte sich wie eine beleidigte Jungfrau bei der Eingemeindung und beansprucht noch heute Sonderrechte. Welche, wofür und war, ist egal. Hauptsache, jedes Regelung hat eine "lex ohligs". Aber ansonsten sind es nette Menschen, die dort wohnen, die nicht schlecht zu feiern und fröhlich zu sein wissen. Und denen tüchtiges Geschäftemachen im Blut liegt. Siehe Historie.

 

Wald

Walder lieben das Understatement. Sie weisen nicht gerne darauf hin, wie wichtig und wertvoll sie nicht nur im Laufe der Jahrhunderte waren, sondern heute noch sind. Sie erwarten, dass man das weiß und respektiert. Dass sie ein Dorf, pardon: eine Stadt rund um den Kirchturm sind, geht so in Ordnung, man kuschelt sich gern in seinen Schatten. Zumal etliche fleißige und hübsche Täler Wald bereichern und die Industrie dennoch reichlich Platz hat. Nebst einem schieren Gewirr versteckter oder ähnlich aussehender Straßen, deren Richtung und Zweck Außenstehenden nicht erklärt werden kann. Wald, das Labyrinth mit klarem Mittelpunkt, solche Widersprüchlichkeit hat hier Methode und Sympathie.

 

Höhscheid

Die Stille. Die Unauffällige. Die Ruhige. Die Weitläufige. Die Sonderbare. Die Ursprüngliche. Die Liebliche. Ach, man könnte dieser Stadt, diesem Stadtteil, so viele Attribute verleihen, sie wären zutreffend, aber nicht umfassend beschreibend. Höhscheid ist von Zuschnitt und Struktur nicht mit den anderen Stadtteilen vergleichbar, ist zersplitterter als alle anderen, reicht von steilen Wupperklippen bis in den Flachsand der Heide, hat Kotten und Fabriken in großer Zahl und bewahrte sich dennoch viel ländliches Grün. Hier könnte man geradezu Ferien machen wollen. Der letzte Galgen Solingens stand dort, auf dem Kohlsberg, aber die Höscheider an sich sind alles andere als Leute, die davon gerne noch Gebauch machen würden. Denn Tradition als Anlass zu zahlreichen Feiern ist ihnen heilig, Nachbarschaft zählt, vor allem, wenn sie einen so kauzig sein llässt, wie man mit Freuden ist.

 

Burg

Sie weinen immer noch. Das war das größte Foul der Geschichte, sie per Verwaltungsakt nach Solingen zu bugsieren, wo sie doch dereinst der Mittelpunkt der mondi montanii, der Bergischen Welt und später so herrlich der ungestörten Rand einer Landgemeinde (Wermelskirchen) waren und sich selbst zelebrieren durften. Das wurde ihnen bei der Vereinigung nicht nur noch und heilig, sondern schriftlich zugesichert, was sie versöhnte, die Unterwerfung anzuerkennen, ohne sich um sie zu kümmern. Burg kokettiert mit seinem Reiz als echte Touristenattraktion und authentisches Städtchen alter Prägung; darin tut es recht und es ist mehr als gut so.

 

Opladen, Leichlingen, Langenfeld, Hilden, Haan ... adé ohne Tränen

Früher gehörten zum Landkreis Solingen noch Städtchen, Dörfer und Gemeinden im "flachen Teil" zum Rhein hin. Die wurden bei der Städtevereinigung anderen Kreisen zugeschlagen. Seitdem sind zwei von ihnen, Haan und Leichlingen, sympathisch folkloristisch verbunden. Haan wegen der Kirmes und mancher Ausflugsziele oder Restaurants, Leichlingen ebenfalls als Wandergebiet und als regionale Obstkammer. Hilden ist faktische Schwesterstadt von Ohligs geworden, hier geht man gerne zum Einkaufen. Auf Haan hätte man wegen der vermögenden Einwohnen - Schlafstadt Düsseldorfs - und einiger höchst lukrativer Wirtschaftsunternehmen rein gewerbesteuerlich gerne geschielt, wenn es denn landespolitisch durchzusetzen gewesen wäre. Aber dieser Traum ist längst vorbei, man lebt friedlich vor sich hin. So auch mit den anderen westlichen und südwestlichen Nachbarn. Vorausgesetzt, es geht nicht um das leidige Thema der Anbindung von Solingen an die Autobahn A3. Da ist Zoff vorprogrammiert.

 

Wuppertal, Remscheid

Beide Städte grenzen unmittelbar an Solingen, zusammen bilden sie das "Bergische Dreieck". Das aber denken sich nur lebensfremde Landespolitiker in Düsseldorf, spendieren sogar einiges an Knete für eine "Regionale 2006", die die Städte näherbringen soll. Doch als Solinger darf man wohl mit Berechtigung die Frage stellen: Was bitte, haben wir mit Wuppertal oder Remscheid zu tun, he? Hätte der liebe Gott gewollt, dass man eins wäre, hätte er die Wupper zwischen ihnen fließen lassen? Einkaufen in Remscheid und Wuppertal ja. Aber abends ist man wieder zu Hause. Das wird sich in den nächsten Jahrtausenden auch nicht ändern.