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Das graphische Gewerbe
Solingens im 20. Jahrhundert |
1965 feierte der Ortsverein Solingen
der damaligen Gewerkschaft "Druck und Papier" (heute in ver.di
aufgegangen) 75jähriges Bestehen. Die Buchdrucker, das grafische Gewerbe,
war schon immer stramm gewerkschaftlich organisiert und wegen 10 Pf.
Stundenlohn "warf man die Brocken hin", kündigte einen Arbeitsplatz, weil
man 10 Minuten später einen neuen hatte. Mit mindestens 20 Pfennig
Stundenohn mehr. Zeiten waren das!
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1900
Das war das Jahr, in dem der spätere "Mann des
Jahrtausends" (von den US-Amerikanern so gekürt und geehrt), Johann
Gensfleisch, genannt Gutenberg, fröhliche Urstände feierte: seiner
Erfindung (die in Korea allerdings schon längst vorher existierte) war der
Durchbruch des Buchdrucks zu verdanken. Das Privileg der Schreiber in
Klöstern wurde gebrochen und Ideen konnten schneller ihren Weg zu den
Lesern finden. Vorausgesetzt, diese konnten überhaupt lesen, was auch um
1900 nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit war.
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Ohligser Anzeiger, 1. Dez. 1891: "In drei der
bedeutensten hiesigen Druckereien haben die Schrifstetzer mit 14tägiger
Frist gekündigt. Sie verlangen neunstündige Arbeitszeit. Die Prinzipale
sind nicht gewillt, die Forderung zu gewähren." |
1907
Vor 100 Jahren mussten Arbeiter um ihre Rechte kämpfen. Fast hat es den
Anschein, 100 Jahre später auch. Ob sie dies jedoch wieder mit diesen
Idealen tun, bleibt abzuwarten.
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Zur Maifeier 1907 wurde zum neuen Tag aufgerufen.
Warum der Wanderknabe nackt dem Sonnengott entgegentritt, ist zwar auch in
der allegorischen Deutung nicht unbedingt verständlich, soll aber wohl
nicht die Armut, sondern eher die jugendliche Unschuld beweisen, mit der
man sich selbst am Morgen einer goldenen Zeit sieht. Haltung, Hut und
Fahne jedoch signalisieren, dass man sich als legitimer Nachfolger der
Französischen Revolution betrachtet.
acon |
Hier im Kaisersaal wurde Solinger
Arbeitergeschichte gemacht: der Versammlungsort der Linken - ob
Sozialdemokraten oder Kommunisten, der Arbeiter - und immer wieder der
einfach fröhlich feiernden Leute. Der Biergarten vor dem Lokal dürfte
"Bände erzählen" können, wenn er je gekonnt hätte. |
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Die links fahrende Straßenbahn ist die nach Wuppertal,
am Bildrand rechts eine Linie der Solinger Straßenbahn. Der Kaisersaal
steht in etwa dort, wo heute der Neubau (ehemals Pasche) am östlichen Rand
der Clemensgalerie-Plaza steht, nebenan ist die Gaststätte Rust das
einzige Überbleibsel des früheren Solinger Trinkmittelpunktes. |
Wie gründlich die Kaisersaal- und Mühlenplatz-Idylle im II. Weltkrieg
zerstört wurde, lässt dieses Bild von 1945 ahnen. Gut zu erkennen die
heute noch existenten Stumpftürme der Clemens-Kirche. In der Bildmitte,
dem dunklen Trümmerhaufen, befindet sich die Plaza der Clemensgalerie |
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Auch in Wald gab es ein Gewerkschaftshaus, der Buchenhof. |
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In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es
im Kreis Solingen ca. 27 Druckereien; in der Blütezeit des grafischen
Gewerbes, etwa den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, waren es weit
über 40.
Viele der "großen Namen" sind längst
Geschichte: Contius Klischees in Wald, Druckerei Vieth in Ohligs,
Knoche-Druck, Wald, Stöpfgeshoff in Solingen ... und dutzend andere mehr. |
Die Genossenschafts-Buchdruckerei war Heimat der "Bergischen
Arbeiterstimme". Einer der Redakteure war in den Jahren 1920/21 Richard
Sorge, späterer sog. russischer "Meisterspion", der in die Zweite
Weltkriegsgeschichte einging. |
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In der Max-Leven-Gasse stand/steht dieses Haus. Max
Leben wurde in der Nacht zum 8. auf den 9. November 1938, der
Programnacht, in seiner Wohnung in diesem Gebäude erschossen. Er war in
den 20er Jahren Redaktuer der kommunistischen "Bergischen Arbeiterstimme"
gewesen. Die Mörder hatten zuvor die Synagoge angezündet. Frau und Tochter
Max Levens, Emmi und Anita, wurden 1941 nach Lodz deportiert und kamen
dort zu Tode. Immerhin wurden die Mörder von Max Leven zu Gefängnisstrafen
verurteilt.
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Titel der Bergischen Arbeiterstimme am 1. Mai 1917,
herausgegeben in Solingen
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aus dem Buch: Politische Plakate im Stadtarchiv
Solingen, 1992 |
Sozialdemokraten kämpfen gegen Kommunisten und
setzen sich vehement für die Buchdrucker ein, die von diesen Kommunisten
rüde behandelt wurden. Deshalb: RÄCHT UNSERE
BUCHDRUCKER!
Druck: Bergische Verlagsanstalt Solingen |
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Die Wappen der ehemals sechs Solinger Stadtgemeinden:
oben links Dorp, rechts Solingen;
linke Reihe v.o.n.u. Ohligs, Gräfrath, Wald und (das Stadtsiegel)
Höhscheid
Im Zentrum das stilisierte Buchdrucker-Wappen, ein sog. Tampon, der im
Original-Wappen von einem Greif gehalten wird. Mit dem Tampon, übrigens
früher aus Hundeleder, färbten die alten Buchdrucker die Druckform ein.
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Grafische Gestaltung dieses Jubiläumsbändchens:
Günter Bertenburg, dem ich in meiner Schriftsetzer-Lehre bei Wilh. Müller
jr., Ohligs, Sauerbreystraße (heute Druckerei Plaschka) das meiste
praktische Fachwissen verdanke.
Bilder: Contius
Maschinensatz: B. Boll
Druckseiten: W. Müller jr.
Druck und Verarbeitung: Carl Vieth
Druck Umschlag Eugen Langensiepen
Texte: Herbert Weber (siehe auch an anderen Stellen dieser Site), Konrad
Tesche, Max Acker 1891
gründeten Solinger Setzer und Drucker die "Genossenschafts-Buchdruckerei"
in der Goldstraße, heute "Am Neumarkt", zwischenzeitlich mehr als 40
Beschäftige; Herausgabe der sozialdemokratischen "Bergischen
Arbeiterstimme" (Auflage über 12.000, davon rund 10.000 Abonnenten). Vor
dem 1. Weltkrieg Solings meistgelesene Zeitung. |
Paul Sethe |
In dieser Stadt wirkten oft Leute, die dann später
"woanders" groß rauskamen. Einer von ihnen ist der Redakteur Paul Sehte,
der im Ohligser Anzeiger seit 1923 als völlig unkonventioneller Redakteur
arbeitete. Unglaublich heute: diese Zeitung konnte einen eigenen
politischen Redakteur finanzieren! Paul Sethe wechselte 1933 zur
Frankfurter Zeitung, arbeitete später für die FAZ, die Welt, die Zeit, den
Spiegel und den Stern. Er starb 1967 in Hamburg, Rudolf Augstein schrieb
für ihn ein einfühlsames Nachwort.
Der "OA" wurde in der Druckerei Wilh. Müller jr. auf der
Sauerbreystraße hergestellt, wo ich 1964 die Schriftsetzerlehre begann.
Eine der "Altgesellen", der Maschinensetzer Artur Meier, erzählte oft, wie
Sethe intensiv mit den Setzern das Weltgeschehen diskutierte, sich Notizen
machte und daraus seine Konsequenzen zog: er diktierte, für damalige
Verhältnisse, direkt in die Setzmaschine (dort Zeilen zu ändern hieß
praktisch, von vorn zu beginnen, anders als bei heutigen Computern). Paul
Sethe dachte und redete also wortwörtlich "druckreif". Was man heute
selbst von gestandenen Redakteuren kaum erwarten darf.
Und ich gestehe, dass es diese Schilderungen von Artur Meier waren, die
meine Idealvorstellung vom Journalisten geprägt haben. Nicht wunder, dass
ich sie selbst umzusetzen versuche.
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Übrigens, den Schriftsetzern verdankt Solingen und
überhaupt das ganze Land Kultur.
Franz Schwarz, Begründer des Jazz-Club Ritterstraße, des Mumms und
Birkenweiher ist ebenso Setzer wie Karl Dall, Björn Engholm, Paul Löbe,
Rudolf Dreßler - und ich. |
"1542 verstarb Johannes Soter, Papiermacher und
Drucker in Solingen. Der gebürtige Bensheimer hieß mit Nachnamen Heyl,
wandelte aber seinen Namen nach Humanistenart ins Lateinische. Schon als
Student der Kölner Universität verdiente sich Soter Geld mit der
Druckkunst. Er wurde zu einem angesehehen Jünger Gutenbergs, der vor rund
100 Jahren einen ganz neuen Weg erschlossen hat, Literatur zu
vervielfältigen und zu verbreiten. In den wenigen Jahren, die Soter in
unserer Gegend verbrachte, ist er den menschen in und um Solingen immer
fremd geblieben. Vielen erschienen seine Kunst und sein Wissen als
geheimnisvoll oder gar unheimlich."
Nun, erstens werden auch heute noch wissende
Menschen in Solingen mit großem Misstrauen betrachtet und zweitens - noch
viel schlimmer - diese Internet-Site entsteht nur wenige hundert Meter
Luftlinie von Soters Wirkstätte, der Papiermühle, entfernt. Grauenhaft,
nicht wahr?
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Publikation des Bergischen Geschichtsvereins, Abtlg.
Solingen
"Anzeiger für Stadt und Ambt Solingen"
Druck und Verlag B. Boll / Solinger Tageblatt
Herausgabe am 30. August 1985
Die Abbildungen zeigen Gutenberg und seine 42zeilige Bibel sowie die von
ihm benutzte "Druckmaschine". |
Solinger Zeitungen
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1809 "Der
Verkünder", wöchentlich; Verleger Siebel; einzige Lizenz des Landrates für
eine Zeitung
1835 "Der Verkünder" heißt jetzt
"Solinger Kreis- und Intelligenzblatt)
1848 Pressefreiheit in Preußen;
"Elberfelder Kreisblatt" oder "Kölnischer Anzeiger" berichten auch über
Solingen
1848/49 "Bergisches Organ", Verleger
Hermann Amberg, links-liberal (nur 2 Jahre)
1849 Juli "Bergisches Volksblatt";
Herausgeber Buchhändler Gebr. Pfeiffer, konservativ; bis 1921 bestanden
als "Solinger Zeitung"
1867 Bernhard Boll erwirbt das Kreis-
und Intelligenzblatt von der nachfolgerlosen Familie Siebel
1868 die Solinger Zeitungen nehmen
rein äußerlich und inhaltlich in etwa das heutige übliche Zeitungsformat
an; sie erscheinen dreimal wöchentlich
1868 Das "Bergische Volksblatt" wird
in "Solinger Zeitung" umbenannt
1868 "Wald-Merscheider Zeitung",
Verleger Friedrich Wilhelm Vossen; kurz darauf Umbenennung in
"Bergische Zeitung"; Zielsetzung politische Volksbildung; auch politische
Berichte aus Berlin
1877 "Solinger Freie Presse,
Mutterblatt war die Elberfelder "Bergische Arbeiterstimme"
Um 1880/90 zahlreiche
Zeitungsneubildungen, alle nur von kurzer Dauer;
1896 erschienen zeitgleich im Kreis Solingen 6 unabhängige
Zeitungen
1890 "Bergische Arbeiterstimme" der
Genossenschafts-Buchdruckerei
1886 Die "Bergische Zeitung" wird
"Walder Zeitung"
1888 Die etablierten Zeitungen
erscheinen nun täglich
1876-1941 "Ohligser Anzeiger",
Druckerei Wilh. Müller jr.
1881 "Dorper Zeitung", später
umbenannt in "Solinger General-Anzeiger", bis
1906
1896 "Ohligser Tageblatt",
1902 in "Ohligser Zeitung" umbenannt,
bis 1922
1912 "Solinger Kreis-Intelligenzblatt"
nennt sich "Solinger Tageblatt" um
1918/19 Die Solinger "Bergische
Arbeiterstimme" wird zum Parteiorgan der linksgerichten Unabhänigen
Sozialdemokratie (USPD)
1920 "Solinger Volksblatt", bis 1933,
SPD-"Mainstream"
um 1925, die "Bergische
Arbeiterstimme" ist Parteiorgan der KPD; sie wird ab 1930 in Düsseldorf
gedruckt, da sie in Solingen keine Zustimmung mehr findet; Verbot 1933
1935 "Bergische Zeitung" wurde in die
parteiamtliche "Rheinische Landeszeitung" umbenannt
Nach dem 2. Weltkrieg:
"Freiheit", ab 1949 "Freies Volk",
eine KPD-Zeitung
bis 1962 "Rhein-Echo", später "NRZ
Neue Rhein Zeitung", SPD-nahestehend
Rheinische Post, später "Solinger Morgenpost", CDU-nahe
"Westdeutsche Rundschau", FDP-nahe
"Westdeutsche Zeitung", neutral 1948-49
1949 Wiedererscheinen des Solinger
Tageblatts
Heute existieren "Solinger Tageblatt" und "Solinger
Morgenpost", was noch "Vielfalt" bedeutet, denn viele in der Größe und
Struktur vergleichbare Städte sind heute sog. Einzeitungs-Kreise.
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Bliebe als Fazit: das einst so stolze Graphische
Gewerbe hat auch schon mal bessere Zeiten erlebt als heute ... |
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Optoarchäologischer Fund Ecke Brüder- /
Adolf-Kolping-Straße |
Rückblick: einst waren es stolze Leute, die Setzer
und Drucker.
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